Ignaz Moscheles.

(1794–1870)

[101] Je zahlreicher die Persönlichkeiten heranwachsen, die in Kunst und Literatur zur Blüte gelangen (zu einer Blüte, die leider nicht immer reife Früchte zeitigt), desto mehr wird es zur Pflicht, das Andenken derjenigen ehrend zu bewahren, die den Samen ausstreuten. In unserer Tonkunst ist diese Pflicht der Dankbarkeit um so mehr geboten, als die Nachfolgenden durch die Ausbeutung ihrer Vorgänger sie um so schneller in den Schatten drängen. Denn wenn die Werke der plastischen Künstler in einem Weltmuseum aufgestellt bleiben, welches alle gebildeten Nationen stets zu bereichern streben, so gleichen die Thaten der Musiker mehr den Vorgängen in der politischen Welt, wo Eins das Andere verdrängt und nur den allerhervorragendsten Menschen und Begebenheiten eine lebendige Erinnerung bewahrt bleibt.

Zu den ausgezeichneten Tonkünstlern, welche, zwar unvergessen aber wenig genannt sind in dem Bruhaha unserer Tage, gehört Ignaz Moscheles. Und doch steht er in vorderster Reihe unter denen, welche[102] auf die Entwickelung des Alles beherrschenden Pianoforte einen bedeutenden Einfluß ausgeübt haben. Jene Art von sensationellem Erfolg, wie er heutigen Tages fast unerläßlich ist, wenn von Erfolg die Rede, er war der Erste, der ihn errang. Seine Vorgänger, von Mozart bis zu Hummel, erregten Wohlgefallen, Entzücken, Bewunderung – Moscheles wurde neben alle dem angestaunt.

Seine einfache, würdige und doch so glänzende Laufbahn als Virtuose wie als Componist für sein Instrument bietet dem Biographen weder Gelegenheit zur Erzählung abenteuerlicher Begebenheiten noch zur Klarstellung schwerverständlicher Seelenzustände. Außerordentlich begabt, schon als sechzehnjähriger Knabe ein Künstler und ein Mann, war sein ganzes Leben seiner Kunst, seiner Familie, seinen Freunden und Schülern geweiht; gleichmäßige Treue bewahrte er den einen wie den andern. Die Memoiren, die seine hochverehrte Gattin veröffentlicht hat, geben die Einzelheiten seines ununterbrochenen, unverdrossenen Wirkens und zeigen, absichtslos, daß hier eine wahrhaft glückliche Existenz sich vollendete. Dazu gehört aber nicht nur Glück und Verstand, es gehört auch gar mancherlei dazu, was weder dem einen noch dem andern entspringt – Herz vor allem.

Mir war es nicht gestattet, während längerer Zeit in der Nähe des verehrten Mannes zu weilen – doch kam er zum ersten Mal in mein elterliches Haus, als ich ein zehn- bis elfjähriger Knabe war, und wenige Monate vor seinem Tode ward mir noch die Freude zu Theil, ihm in Hamburg zu begegnen und unvergeßliche Stunden mit ihm zu verleben. In den langen Jahren, die dazwischen liegen, blieb mir Moscheles stets ein warm theilnehmender Freund, und der Zufall mochte uns zusammenführen, wo es sei, in den verschiedensten Orten, in den verschiedenartigsten Verhältnissen – er blieb sich immer gleich. Nur war er darauf bedacht, den Unterschied der Jahre, wie er naturgesetzlich stets weniger hervortritt, in der Verkehrsweise mehr und mehr verschwinden zu lassen.

Die Zeitungen spielten zu Anfang der zwanziger Jahre noch keine große Rolle in Deutschland – die Fama war um so thätiger. Was erzählte sie nicht für Wunderdinge vom dem jüdischen Pianisten[103] aus Wien, der jetzt nach Frankfurt kommen und dort ein Concert veranstalten sollte! Und es war ihr Zeit dazu gelassen – man reiste schneckenartig langsam und ein Concert war auch nicht mit der Miethe eines Saales und einigen Zeitungsanzeigen vorbereitet. Ein Vocal- und Instrumentalconcert mußte einem verehrungswürdigen Publicum geboten werden – ein Orchester war unbedingt nöthig, denn ohne den Vortrag eines »Concerts mit Orchesterbegleitung« ging es nicht ab. Auch mußte jeder Theil durch eine Ouvertüre eingeleitet werden – und eine Sängerin mußte Abwechslung in die Claviervorträge bringen. Wird man es für möglich halten, daß sogar die Erlangung eines Flügels, auf welchem ein Moscheles spielen sollte, ihre Schwierigkeiten hatte? Eine alte Dame, fertige Pianistin, hielt in Frankfurt eine Niederlage Streicher'scher Flügel (der einzigen, die man anerkannte), und es war fast ein diplomatisches Kunststück, ihr ein Instrument abzulocken zum öffentlichen Gebrauch. Ihren eigenen Vorträgen mußte man ein gefälliges Ohr leihen, die aufgestellten Flügel gebührend bewundern, leise mit der Bitte heranrücken – und für die Ehre, die man ihrem Instrument erzeugte, für die Reclame, die man dafür machte, ein sehr dankbares Gemüth zeigen.

Der Saal war überfüllt; auf dem wenig erhöhten Podium des Orchesters bis zu den Füßen des Spielenden saßen die elegantesten Damen – da trat ein fataler Umstand ein. Das Orchester war genöthigt, ehe es ins Concert kam, eine Trauerspiel-Ouverture im Theater zu absolviren, und ließ länger als billig auf sich warten. Wie war das Publicum während der Pause, mit der das Concert begannn, zu beschäftigen? Moscheles entschloß sich schnell. Er sollte zu Ende des Abends eine freie Phantasie zum Besten geben; er that es zu Anfang – eine wahrhaft heroische That! Sie erfüllte jedoch nicht nur ihren Zweck, sie bewirkte mehr. Das Publicum war mit Einem Schlag gefangen genommen und die fragliche Wirkung eines neuen langen Clavierconcerts im Voraus glänzend gesichert.

Dieses Concert (Nr. I. in Es-dur) und die Variationen auf den Alexandermarsch (wohl eine musicalische Perle des Wiener Congresses) waren die Kampfrosse, welche Moscheles auf seiner ersten Kunstreise[104] tummelte und mit denen er unerhörte Triumphe errang. Als Componist hat er diese Stücke in seinen spätern Erzeugnissen weit übertroffen – dem Virtuosen gaben sie Gelegenheit, das Eigenthümliche seiner eminenten Technik zu offenbaren. Die darin enthaltenen Schwierigkeiten waren kühnerer Natur, drangen schärfer ins Ohr, ja, theilweise ins Auge, als die Wagnisse der Vorgänger. Die unfehlbare Sicherheit, mit der Moscheles sie beherrschte, die Frische, das Feuer, die Kraft, die anmuthige Keckheit, die sein Spiel in jener Epoche charakterisirten, wirkten hinreißend und machten ihn in der kürzesten Zeit zum berühmtesten Pianisten. Zugleich zeigte sich der durchgebildete Zögling einer gründlichen Schule, im Aufbau und in der Instrumentation des Clavierconcerts und vollends in der formgewandten, alle Kunstmittel bewältigenden Leichtigkeit seiner extemporirten Vorträge.

Moscheles hatte sich die gesammte Claviermusik von Bach bis Hummel zu eigen gemacht. Als die Fis-moll-Sonate des letztern erschien (auch heute noch eine der schwierigsten pianistischen Aufgaben), entstand eine lebhafte Bewegung in der jungen clavierspielenden Wiener Welt. Jeder wollte sie zuerst bezwungen haben, man studirte gleichsam um die Wette; Moscheles aber errang mit einem öffentlichen Vortrag des gefährlichen Stückes den Sieg.

Mehr als irgend eine andere seiner Productionen stellten die »Studien« (Op. 70) die Bedeutung des Meisters als Componisten fest. Mir ist der erste Eindruck derselben um so unverwischbarer geblieben, als ich sie (sie waren kaum erschienen) im Hause Schelble's durch Mendelssohn kennen lernte, der sie hoch pries und zum Beleg seiner Worte eine nach der andern auswendig vortrug. Kein Zweifel, daß diese Stücke zu den dauerndsten der Clavierliteratur gehören. Hatte auch John Cramer durch seine reich erfundenen, in conciser Formvollendung nicht wieder erreichten »Etuden« gezeigt, wie man den trockensten Theil der Technik in echt musicalischer Weise den Studirenden zugänglich machen könne, so gab Moscheles in seinen »Studien« Stücke, welche, unbeschadet ihrer specifischen Nützlichkeit, durch natürliche Originalität und breitere Durchführung der Gedanken[105] zum selbständigen Vortrag geeignet waren, die ersten Muster der später vielcultivirten Concert-Etude. Einige derselben gehören sogar zu den frühesten Vorbildern der sogenannten romantischen Claviermusik, und die Vorliebe, die Mendelssohn für sie hegte, mag zum Theil in einer Art Wahlverwandtschaft begründet gewesen sein.

Zu seinen stimmungsvollsten und abgerundetsten Compositionen gehören ferner die große Sonate zu 4 Händen (in Es-dur), die Sonate mélancolique (eigentlich nur ein Allegrosatz), das Duett für zwei Claviere: »Hommage á Händeln« und zuletzt, aber nicht als letztes, das zweite Concert in G-moll. Die beiden ersten dieser Werke haben es mit der Gegenwart durch die aus dem Ton fallenden Passagen etwas verdorben, welche trotz Beethoven lange Zeit von bedeutenden Meistern (wie z.B. auch Spohr) für ein nothwendiges Erforderniß gehalten wurden. In dem G-moll-Concert, einem Concert, thun sie nur ihre Bürgerpflicht, und ich kann nicht einsehen, daß es sich deshalb weniger zum öffentlichen Vortrag eignen sollte, als so manche andere, viel gespielte, welchen es an Gehalt mindestens gleichsteht. Es käme hier nur darauf an, daß ein ausgezeichneter Pianist die Initiative ergriffe; aber wie wenige sind dieser Initiative fähig! Auch die große Phantasie mit Orchester auf irländische Lieder muß ich nennen, obschon ihre Zeit vorüber sein mag. Aber sie enthält vor dem Schlusse eine merkwürdige Combination, in der drei Themata zu gleicher Zeit erklingen. Die Ausführung dieses Kunststückchens durch den Componisten waren bewundernswerth. Denn die Motive traten nicht nur mit der vollkommensten Deutlichkeit hervor, sie waren verschiedenartig charakteristisch gefärbt. Kaum wüßte ich ein zweites Beispiel so vollendet mehrstimmigen Vortrags.

In London, wo Moscheles lange Jahre lebte, übten die Pianos und die Pianisten, das Publicum und die Verleger mehrfachen Einfluß auf ihn aus. Die englischen Flügel waren zu jener Zeit allen übrigen an Fülle des Tones weit überlegen und die dortigen Meister des Clavierspiels aus Clementi's Schule, Cramer vor allen, zeichneten sich durch breiteren, nuancirteren Vortrag vor den Virtuosen der Wiener Schule aus. So modificirte denn auch Moscheles wesentlich[106] seine Spielweise; ob zu deren absolutem Vortheil, wage ich nicht zu entscheiden. Viele zogen die frische, leichte Elasticität seiner ersten Jahre vor. Anderntheils sah er sich, wie Cramer, Ries, Kalkbrenner e tutti quanti, veranlaßt, für's große Publicum und dessen Repräsentanten, die Verleger, mancherlei zu schreiben, was – deren Wünschen entsprach. Künstlerische Sorgfalt bethätigte er jedoch auch bei den geringsten Ephemeriden. Bekanntlich nahm Moscheles, auf seines geliebten jungen Freundes Mendelssohn Bitte, eine Lehrerstelle am Leipziger Conservatorium an – unzweifelhaft vor Allem, um in dessen unmittelbarer Nähe zu leben. Leider sollte ihm dieses Glück nur kurze Zeit beschieden sein. Doch verließ er auch nach Mendelssohn's Tode den neuen ihm liebgewordenen Wirkungskreis nicht. Ihm, David und Hauptmann verdankt, nach der Gründung durch Mendelssohn, das Leipziger Conservatorium seinen Ruf und seine Bedeutung.

Ruhig, einfach, würdevoll und wohlwollend war Moscheles' Wesen und Thun. Obwohl er schwerlich die Briefe Lord Chesterfield's an seinen Sohn studirt hatte, befolgte er dessen Vorschrift, ein Gentleman dürfe nur lächeln, nicht lachen. Heiter sah ich ihn fast immer, ausgelassen lustig habe ich ihn nie gesehen. Sehr bestimmt in seinem Urtheil über Musik und Musiker und durchaus freimüthig, trugen seine Aeußerungen doch stets das Gepräge der Anspruchslosigkeit, und fern lag ihm dabei alles Persönliche. Was er dachte, sprach er mit einer charakteristischen Gleichmäßigkeit des Tones aus, ohne je laut, geschweige heftig zu werden – oder satirisch oder überschwenglich. Man konnte nicht seiner Meinung sein, aber an der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit derselben war nicht zu zweifeln. Schmeichelei lag ihm eben so fern als Malice. Zuvorkommend, gefällig, jedem das Seine gönnend, gern das Gute anerkennend, gehörte er zu den seltenen Männern, die, nicht nur hervorragend, sondern auch reich und berühmt, wohl Gegner aber keine Feinde hatten.1[107]

So manche wohlthuende Erinnerung bewahre ich von meinen Begegnungen und Begegnissen mit ihm. Dem Knaben gab er einige Clavierstunden und bestärkte dessen Eltern in dem halb gefaßten Entschlusse, ihn der Musik zu widmen. In Paris, wo mir die Freude zu Theil wurde, seine schöne geistvolle Gattin kennen zu lernen, bezeigte er den regsten Antheil an meinen Bestrebungen. Nach einer längern Reihe von Jahren traf ich ihn in Köln, da ich von Düsseldorf herüber gekommen war, um im Abschiedsconcert meines werthen Vorgängers, des Capellmeisters Dorn, mitzuwirken. Dieser hatte das zufällige Eintreffen des berühmten Künstlers benutzt und ihn ersucht, in einem Stück für zwei Claviere, welches der Concertgeber mit mir spielen sollte, dessen Partie zu übernehmen. Mit liebenswürdigster Gefälligkeit willigte Moscheles ein und verlieh hiedurch dem Abend einen besondern Glanz.

Zum Niederrheinischen Musikfeste im Jahre 1862 kam er nach Köln. Es war ein schönes Fest – Händel's »Salomon« wurde vortrefflich aufgeführt und Moscheles war sehr erfreut und befriedigt. So betheiligte er sich denn auch an einer Spazirfahrt nach Brühl, welche nach Abschluß der drei Tage von einer Künstlerschar unternommen wurde. Wir saßen in demselben Coupé neben einander, hatten mancherlei besprochen, als er plötzlich meine Hand ergriff und sie herzlich drückend zu mir sagte: »Nun müssen wir uns aber auch duzen!«

In Leipzig hatte ich oft die Freude, in seinem gastfreundlichen Hause zu verkehren; auch mancher interessante Brief wurde mir von dort aus von ihm zu Theil. Einen derselben, den er mir nach einer Aufführung meines »Ver sacrum« im Gewandhause schrieb, theile ich hier mit, weil er bezeichnend ist für das wohlwollende Wesen des vortrefflichen Mannes, das sich schon darin zeigt, daß er mir ihn sandte. Wie selten nehmen sich Künstler die Zeit und die Mühe, den Collegen solche Wohlthat zu erzeigen, wenn weder eine Verpflichtung noch ein persönlicher Zweck sie dazu veranlaßt!


Leipzig, den 2. Februar 1868.


Mein lieber Hiller!


Es ruft Dir eine Freundesstimme ein herzliches Bravo zu[108] über Dein Werk: »Ver sacrum«, welches am 30. Januar im Gewandhausconcert aufgeführt wurde. Die Stimme dieses Freundes ist rein, obschon alt, doch noch nicht ausgesungen. Es wollen sich hier einige unreine dieser Stimme in moto contrario anschließen, aber sie läßt sich nicht irre machen und bleibt mit allen Grundtönen in guter Beziehung. In ihr vibrirt noch das herrliche Motiv


Ignaz Moscheles

und das wunderschöne Soloquartett.

Gott verleihe Dir noch lange die feste Willenskraft – erhalte eine freundliche Erinnerung

Deinem J. Moscheles.


P.S. Hill war herrlich.


Gar Manche leben und wirken, welchen Moscheles Lehrer und Gönner gewesen, die Gelegenheit hatten den Menschen und Künstler zu verehren. Möchten sie sein Andenken so treu bewahren, wie er es verdient!

Fußnoten

1 Es ist bekannt, daß sein Einsfluß es war, der die Philharmonische Gesellschaft in London veranlaßte, Beethoven ein glänzendes Geschenk während seiner letzten Krankheit zu übersenden, und nicht minder, daß er sich C.M.v. Weber's während seines Aufenthaltes in der englischen Hauptstadt mit aufopfernder Güte und Liebe annahm


Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 109.
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