Die erste Vorführung.

[33] »Na da kommen Sie!«

Mit diesen kurzen Worten hatte mich der Gerichtsdiener aufgefordert, ihm zu folgen. Jetzt geleitete er mich schweigend den Gang entlang, jedoch nach der entgegengesetzten Seite, von der ich am Mittag hereingekommen war, bis zu einer eisernen Gattertüre, die er aufschloß.

Nun ging es über mehrere solcher Gänge, endlich in einen gewölbten engen Durchgang, wo auf einer kleinen Erhöhung an dem einzigen Fenster dieses düsteren, unheimlichen Raumes ein älterer Beamter an seinem Schreibpulte saß. Ein paar Gerichtsdiener standen umher, und im äußersten Winkel entdeckte ich, nachdem sich mein Auge an das hier herrschende Dämmerdunkel gewöhnt hatte, eine ängstlich[33] dreinschauende junge Frauensperson, ebenso wie ich gekleidet, die alsbald von einem der beiden Gerichtsdiener abgeführt wurde.

Ehe ich aber noch diesem Vorgange meine Aufmerksamkeit voll zuwenden konnte, wurde ich von meinem Begleiter dem schreibenden Beamten überwiesen, der darauf in kurz befehlendem Tone ein paar Fragen nach meinen Personalien an mich richtete.

Im selben Augenblick öffnete sich abermals die niedrige schwarze, eisenbeschlagene Türe, durch die das junge Mädchen vorhin mit dem Gerichtsdiener verschwunden war. In ihr erschien in Begleitung eines ebensolchen Beamten ein alter Mann im fadenscheinigen, zerrissenen Rocke, auch im Gesichtsausdruck das Urbild eines Vagabunden.

»Den können Sie gleich wieder mitnehmen,« wendete sich der Schreibende, vom Pult aufsehend, an meinen Begleiter, indem er auf das unglückliche verkommene Subjekt deutete.

»Kommen Sie mit!« sagte der Angeredete und marschierte dann mit dem alten Mann nach derselben Richtung zurück, von wo wir hergekommen waren.

Dieser besonderen Abteilung von Gerichtsbeamten liegt es einzig ob, die Untersuchungsgefangenen aus dem Gefängnis bis in den Vorraum zu führen, aus welchem sie dann von den eigentlichen Gerichtsdienern nach dem Landgericht weiterbefördert werden.[34]

Dieselben Beamten transportieren die bereits verhörten Gefangenen ebenso von hier wieder ins Gefängnis zurück. Sie werden deshalb in der Amtssprache kurz »Vorführer« genannt.

Während nun der Begleiter des alten Mannes dem schreibenden Beamten kurzen Bericht erstattete, hieß mich der andere Gerichtsdiener folgen.

Die geheimnisvolle schwarze Tür wurde wieder aufgeschlossen. Sie war so niedrig, daß mein Begleiter nur gebückt hindurchgehen konnte. Wir traten hinaus in den Flur des Landgerichts. Dann ging es die Treppe hinauf, über einen Korridor, bis wir vor einer der vielen Bureautüren Halt machten, hinter denen hier amtiert wurde. Mein Führer öffnete ohne weiteres. Ich wurde wohl schon erwartet, denn mit einer kurzen Meldung ließ mich der Diener eintreten, worauf er sich wieder entfernte.

Es war ein ziemlich großes Expeditionszimmer, in dem ich mich befand. Drei Beamte arbeiteten darin, jeder für sich an einem großen, breiten, hochlehnigen Schreibtische, der von dem des Nachbars wie durch eine Wand abgegrenzt war. Der mittelste von den dreien winkte mich jetzt zu sich heran, wobei er auf einen Stuhl wies, der neben seinem Schreibtische stand. Nachdem ich mich gesetzt hatte, musterte mich der augenscheinlich noch sehr junge Beamte zunächst mit kritischen Blicken.[35]

»Bei Ihnen war's wohl auch Zeit, daß Sie festgenommen wurden?« begann er in verletzend hochfahrendem Tone.

Heute bin ich überzeugt, daß der wahrscheinlich noch gänzlich unerfahrene junge Mensch mich jedenfalls nach dem Eindruck, den meine Persönlichkeit in dem abscheulichen Sträflingsgewande auf ihn hervorgebracht, für eine ganz besonders gefährliche Verbrecherin hielt, der man gleich anfangs möglichst zu imponieren suchen müsse.

Vielleicht mochte er aber doch eine andere Wirkung dieser unerhörten Überschreitung seiner Amtsbefugnis erwartet haben.

Stumm und starr, keines Wortes mächtig, saß ich da und blickte ihm nur mit einem vielsagenden Ausdruck ins Gesicht, der ihm wohl besser als Worte sein ungehöriges Benehmen einer noch völlig unbescholtenen älteren Untersuchungsgefangenen gegenüber vor Augen führte. Er wurde dann etwas höflicher. Dennoch gestaltete sich dies erste Verhör, so kurz und wenig eingehend es war, außerordentlich peinvoll.

Man könnte sich vielleicht wundern, daß ich solche beispiellose Anmaßung eines jungen Beamten nicht sofort gebührend zurückgewiesen habe. Später machte ich dem Untersuchungsrichter Mitteilung davon. Dieser erkundigte sich sehr eingehend nach dem Zimmer, in welchem der Vorfall stattgefunden, sowie[36] nach dem Äußeren des jungen Beamten, und ich glaube bestimmt, daß ihm eine Rüge zuteil geworden wäre, wenn sich seine Person noch hätte ermitteln lassen. Es waren aber schon ein paar Monate darüber hingegangen, so daß ich keine genaue Beschreibung mehr abzugeben vermochte. An jenem Abend stand ich noch zu sehr unter dem Eindruck all der niegeahnten Schrecknisse, und war zudem etwas matt von der tagelangen Nahrungsenthaltung. Darum ließ ich alles wortlos über mich ergehen.

Nach beendetem Verhör drückte der junge Beamte, jedenfalls ein Aktuar des Landgerichts, auf eine am Schreibtisch befindliche Klingel, worauf sofort der Gerichtsdiener im Türrahmen erschien, um mich den gleichen Weg wieder zurück bis nach dem Durchgange zu geleiten, von wo mich ein Vorführer ins Gefängnis ablieferte. Hier wurde ich von der Aufseherin übernommen und wieder in die Zelle eingeschlossen.

Das war meine erste Vorführung. So viele aber auch später noch nachkamen, so sehr sie in rascher Folge sich ablösten, mitunter nicht nur täglich, sogar zweimal am Tage sich wiederholten, die erste bleibt doch unauslöschbar in meinem Gedächtnis haften. Sie hat sich diesem mit allzu schreckhafter Deutlichkeit eingeprägt.[37]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 33-38.
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