Siebzehntes Kapitel

Unglück und Teilnahme.

[74] Betrifft jemand ein Unglück oder irgendein in die Öffentlichkeit gedrungener peinlicher Zufall, so sollen ihm nur diejenigen einen Teilnahmsbesuch machen, die genau wissen, nicht mißverstanden zu werden.

Teilnahme, wirkliche Teilnahme, muß sehr zarten Regungen entspringen und sich demgemäß dem Betroffenen gegenüber äußern, wenn sie nicht mehr verwundend als tröstend wirken soll.

Ein schmerzbetroffenes, vom Unglück verdüstertes Gemüt ist gleich einer offenen Wunde. Jede unzarte Berührung, jede indiskrete Annäherung, selbst, wenn diese dem besten, wärmsten Gefühl entsprang, läßt es entweder schmerzlich aufzucken oder zu eisiger Starrheit in sich zurückziehen.

Oft hält der Betroffene, mißtrauisch geworden durch die Wucht eines Unglückes, durch das Mißlingen[74] eines Planes, die Teilnahme des anderen nur für Neugier.

Oft ist die Teilnahme auch nur Neugier, deren harmlosere Form weniger einem bösen Herzen als der Sucht nach Neuigkeiten entspringt.

Diese Art der erheuchelten Teilnahme, welche der Betroffene schnell erkennt, verwundet schmerzlicher, als eine schroffe, ungekünstelte Meinung über das Vorgefallene.

Zudringliche Teilnahme ist durchaus gegen den guten Ton und von gebildeten Leuten, die sich einer Taktlosigkeit doch meist bewußt sind, besonders verurteilungswürdig. Man hüte sich daher, wenn man einem vom Unglück Betroffenen nicht sehr nahe steht, indiskrete Fragen an ihn bezüglich des peinlichen Ereignisses zu richten, und spreche auch mit anderen Leuten nicht in neugieriger oder gar indiskreter Weise über solchen Unglücksfall. Die Äußerungen des Herzens sollen noch mehr dem guten Ton unterworfen sein, als die des Verstandes.

Hingegen wird eine aufrichtige, mitfühlende, vom Herzen wahrhaft eingegebene Teilnahme selten den Weg zum Herzen des anderen verfehlen. Wirkliche, edle Teilnahme wird dem vom Unglück Betroffenen, wenn er auch noch so versunken in seinen Schmerz ist, doch immerhin etwas[75] Trost gewähren, und sei es auch nur in der Empfindung, daß es noch treue, gute Menschen gibt.

Deshalb soll man sich auch nicht von falschem, übertriebenem Zartgefühl, in dem Gedanken, man könne mißverstanden werden, zurückhalten lassen, dem Freunde in der Stunde der Verzweiflung, der Demütigung, der Not sich zu nahen. Ein gutes, warmherziges Wort zur rechten Stunde, der stumme und doch so beredte Händedruck eines getreuen, mitfühlenden Freundes im Augenblick tiefster Kümmernis und Niedergeschlagenheit hat schon manchen geschützt vor übereilten Schritten, ihn aufrecht erhalten, wenn Mutlosigkeit und Verzagtheit ihn überwältigen wollte.

Seinen Freunden aber beizustehen mit Rat und Tat, nach bestem Ermessen in der Stunde des Unglücks, fordert nicht nur der gute Ton, sondern auch die Herzensbildung.[76]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 74-77.
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