Neunzehntes Kapitel

Rat – Meinung.

[80] Seinen Rat, seine Meinung soll man niemand ungefragt aufdrängen. Es gibt Menschen, die jedem zu raten sich verpflichtet fühlen. Sie ernten im allgemeinen wenig Dank dafür.

Die menschliche Natur ist so veranlagt, daß sie eines empfangenen Rates sich nur erinnert, wenn die betreffende Angelegenheit durch dessen Befolgung eine ungünstige Wendung nahm. Hat dagegen der Ratschlag eines anderen sich nützlich erwiesen, dann erinnern sich die Betreffenden wohl in den seltensten Fällen dessen, der ihn gegeben.

Wird man indessen bei ernsten Angelegenheiten um Rat angegangen, dann soll man nicht oberflächlich, flüchtig, sondern nach einsichtsvollstem Ermessen mit hingebendstem Interesse an der Sache raten, da, wie gesagt, die Befolgung eines Rates dem Betreffenden sehr verhängnisvoll werden kann.

Auch seine Meinung soll man nicht jedem aufdrängen, da Meinungsverschiedenheiten zumeist[80] auch auf individuellen Auffassungen beruhen, indem jeder eine Angelegenheit von seinem Standpunkt aus beleuchtet.

Schon Friedrich der Große sagte: Man soll jeden nach seiner Fasson selig werden lassen. Vor allen Dingen aber hüte man sich, allen Leuten unaufgefordert fortwährend Wahrheiten sagen zu wollen. Selbst wenn dies aus wohlmeinendster Absicht geschieht, wird es dennoch meist mißverstanden, da im allgemeinen keiner weder die Wahrheit gern hört, noch den anderen dazu befugt hält, sie ihm zu sagen. Man braucht, wenn man seinen guten Freunden nicht fortwährend die Wahrheit sagt, deshalb noch lange nicht falsch zu sein. Der gute Ton zieht ein diskretes Schweigen der beleidigenden Wahrheit vor. Seine Schwächen kennt mehr oder weniger jeder selbst genugsam, will sie aber nicht gern von anderen schonungslos aufgedeckt sehen.

Im übrigen verbirgt sich bei den gewohnheitsmäßigen Wahrheitssagern nicht immer nur menschenfreundliches Wohlwollen und biedere Offenheit hinter dieser Gewohnheit. Viele benutzen diese Form als Deckmantel für Bosheiten, neidische Angriffe und hämische, verletzende Bemerkungen, und ist diese Art des sogenannten Wahrheitssagens gewiß durchaus gegen den guten Ton.[81]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 80-82.
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