Zweiundzwanzigstes Kapitel

Beruf.

[87] Wohl sollen Eltern, Vorgesetzte, Vormünder ihren Schutzbefohlenen bei der Wahl eines Lebensberufes mit Rat und Tat zur Hand gehen, sie nach bester Erkenntnis der persönlichen Individualität und Anlage, nach persönlicher Erfahrung zu beeinflussen suchen. Sie sollen aber jungen Leuten gegenüber nicht nur schroff an ihrer eigenen diesbezüglichen Meinung festhalten, ohne im geringsten Anlage, Fähigkeiten und inneren Drang der Betreffenden zu berücksichtigen und sie auf diese Weise gegen ihre Neigung in Berufssphären hineindrängen, in denen sie ihr Lebensglück nicht zu finden vermögen.

Nicht immer ist der Beruf, auf den persönliche Neigung einen jungen Menschen hinweist, seine ihm vom Schicksal vorgezeichnete Lebensbestimmung.

Oft irrt sich der junge Mensch und hält das für innerste individuelle Begabung und Richtung,[87] wozu ihn phantastische Schwärmerei, halbe, zur Erreichung eines größeren Zieles nicht genügende Veranlagung und oberflächliche verworrene Neigung drängt.

In diesem Fall, in der richtigen Erkenntnis der für einen erfolgreichen Lebensberuf nicht ausreichenden Anlage des betreffenden jungen Menschen, ist es nicht nur gerechtfertigte Vorsicht, sondern auch Pflicht der Erzieher und Eltern, den jungen Schutzbefohlenen durch vernünftige Vorstellungen von haltlosen Berufsplänen abzuhalten.

Oft aber ist das, worauf einen jungen Menschen seine innerste individuelle Anlage, sein Sehnen hindrängt, auch der ihm vom Schicksal vorgeschriebene Beruf, und hier soll man, wenn man irgendwie im Zweifel mit sich ist, wie man jemand raten soll, wie beeinflussen, sehr genau überlegen und mit Sachverständigen eine diesbezügliche Frage erörtern, ehe man eine persönliche von der des betreffenden jungen Mannes abweichende Ansicht durchaus geltend macht.

Gerade das Ergreifen eines Berufes soll in vorurteilsfreier Weise geschehen. Dabei soll nur auf Anlage Rücksicht genommen werden.

In seinem Beruf soll der Mensch eine eigentliche Befriedigung, sein Lebensglück finden. – Im Beruf soll er sich Ansehen, Stellung erwerben – im Beruf soll er sich als nützliches, förderndes[88] Mitglied der Gesellschaft betätigen –, alle diese Resultate aber sind doch immerhin am ehesten »dem« Beruf abzuringen, in dessen Ausübung man die größte Befriedigung fühlt.

Es soll damit nicht gesagt sein, daß ein vernünftiger Mensch sich nicht auch in einen Beruf zu beglückender Tüchtigkeit hineinarbeiten kann, wenn zwingende Verhältnisse, schwerwiegende Umstände ihn veranlaßten, ihn gegen seine Neigung zu wählen, aber bei der Wahl eines Berufes soll man die Neigung des Betreffenden jedesmal mit in Betracht ziehen und nicht nur nach althergebrachten, gewohnheitsmäßigen Ansichten entscheidende individuelle Wünsche und Anlagen unberücksichtigt lassen.

Der Vater soll seinen Sohn, der durchaus anderen Berufsneigungen huldigt, nicht zwingen wollen, in die durch Generationen ausgetretenen Pfade seiner eigenen Berufstätigkeit nun auch wieder als weiterspinnendes Glied zur Erhaltung der angesehenen Firma einzutreten, in dem Bestreben, ihn glücklich zu machen. Wirklich glücklich kann ein Mensch, wie gesagt, doch nur in dem Beruf werden, der ihm zusagt.

Vor allen Dingen soll man auffallende Kunstbegabungen, wenn sie wirklich der Ausbildung und Entwicklung wert scheinen, nicht in jungen Menschen gewaltsam zurückdrängen, um sie zu[89] nüchternem, ihnen widerstrebendem Beruf zu zwingen.

Das rächt sich doch früher oder später.

Entweder wird solcher Mensch in dem seiner innersten Anlage widerstrebenden Beruf völlig unbrauchbar und infolgedessen, dem verfehlten Lebenszweck gegenüber, doppelt unglücklich oder er wird Fesseln, die ihm gewaltsam aufgezwungen wurden, früher oder später auch gewaltsam sprengen und dann vielleicht auch auf dem ihm von der Natur zugewiesenen Berufsfeld, ohne die notwendige Rüstung der Ausbildung, nichts Großes mehr zu leisten imstande sein.[90]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 87-91.
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