Benehmen gegen Leidende.

[90] Wie glücklich können wir uns schätzen, wenn wir in gesundem Gebrauch unserer Sinne und Glieder sind, und wie herzlos würde es von uns sein, denjenigen zu kränken, zu verspotten oder ohne Beistand zu lassen, der nicht so vom Schicksal bevorzugt ist.

Es ist ein Zeichen roher Gesinnung, wenn wir beim Anblick eines Krüppels lachen, wenn wir wohl gar seinen ungeschickten Gang, die unsichere Bewegung seiner Arme und Hände, oder durch Grimassen das Zucken seiner Gesichtszüge nachahmen. Jeder Leidende, wer es auch sei, hat ein Recht auf unsere Theilnahme, unsere Rücksicht. Jeder ehrt sich selbst, der dem Lahmen, Hinkenden, Verkrüppelten beisteht, sei es nun, daß er ihm behilflich ist den Tritt eines Wagens oder die Stufe einer Treppe zu ersteigen, oder ihm etwas zu Boden Gefallenes aufhebt, oder ihn beschützt, während er den Fahrdamm überschreitet und ihm einen Stuhl zurecht rückt, wenn er sich setzen will.

Dem Blinden mögen wir das Licht unserer Augen leihen, den Arm um ihn zu geleiten. Ihn, der so viel entbehrt, auf jede Weise zu erfreuen, zu helfen sei unser Streben.[90]

Tauben Menschen ein wenig Unterhaltung zu verschaffen, sich ihnen zu widmen, wenn sie nicht Theil nehmen können an der Luft, der Freude der Andern, sollten wir nie versäumen. Es ist allerdings keine kleine Aufgabe, immerfort mit erhobener Stimme sich dem Schwerhörigen verständlich zu machen, sich mit ihm zu beschäftigen, während die übrige Gesellschaft munter plaudert und lacht. Es gehört viel Geduld, ein freundliches Herz dazu, aber wer wollte nicht gern sich einmal opfern?

Der Leidende selbst hat uns aber eine solche Freundlichkeit nach Kräften zu erleichtern, der Gebrauch eines guten Hörrohres wird in den meisten Fällen dieses ermöglichen, darum darf er nicht hartnäckig die Benutzung desselben verweigern. Der Schwerhörige wird leicht heftig, ungeduldig, mißtrauisch. Ach, wie sehr erschwert er sich dadurch sein Leiden und den Umgang mit Andern, das müßte er jederzeit bedenken.

Habe ich aber in Gesellschaft mich längere Zeit der Unterhaltung mit einem Harthörigen unterzogen, so hat ein Anderer meinen Platz einzunehmen und darf man es mir nicht verargen, wenn ich mich nach ihm umsehe und leise rufe: »Ablösung vor!« Man wird mich dann in guter Gesellschaft nicht vergeblich rufen lassen, ja gewiß schon meiner Bitte zuvor kommen.

Den Leidenden ist es stets peinlich, wenn man sie zu scharf oder längere Zeit ansieht. Es ist dieses auch im höchsten Grade unzart, ebenso aber, wenn wir beim Anblick einer Krankheit uns mit der Geberde des Ekels zur Seite wenden. Jeder muß den Ausdruck seiner Züge beherrschen können, und wenn wir fortblicken, darf nichts verrathen, daß wir den Anblick nicht ertrugen. Leidende beobachten oft scharf, sind sehr empfindlich. Wie traurig müßte es uns doch sein, sie so schwer verletzt zu haben.

Oft auch suchen sie in unsern Zügen zu lesen und die Größe oder Gefahr ihrer Krankheit danach abzumessen, da will man gewiß nichts thun, um sie zu ängstigen und ihre schwarzen, sorgenvollen Grübeleien noch zu vermehren. Ja, das Zartgefühl verlangt in[91] diesem Falle sogar eine Unwahrheit von uns, und wenn der Kranke uns fragt ob seines Aussehens, ob seiner fortschreitenden Besserung, ist es ein Gebot der Menschenliebe, daß wir ihn zu beruhigen, zu trösten suchen, selbst wenn wir dabei etwas sagen sollten, was wir selbst nicht glauben.

Geradezu ungebildet ist es aber, wenn wir Jemanden, den wir lange nicht sahen, erklären, daß wir ihn sehr verändert, oder sehr alt geworden finden, oder auch wenn wir fragen: »Fehlt Ihnen etwas? Sie sehen so schlecht aus,« oder: »Ich hätte Sie kaum wiedererkannt.«

Auf manche Menschen hat eine solche Erklärung den Einfluß, daß sie wirklich sich krank fühlen, wenn es vorher nicht der Fall war. Ebenso hat schon oft eine Versicherung, daß man das Aussehen des Kranken wohl und gut, in der Genesung fortgeschritten fände, diese thatsächlich befördert. Der Geist beherrscht den Körper ja weit mehr als es Manche einräumen wollen. Freude belebt, Kummer und Herzeleid machen kraftlos. Das alte Sprichwort: »Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden!« besagt nicht etwa, daß die größte Hoffnung sich als eine untrügerische erweist, sondern, daß so lange wie wir sie festzuhalten vermögen, wir nicht ganz verloren sind. Darum lasse sich Jeder angelegen sein diese Trost-, diese Freudenbringerin wach zu rufen und zu erhalten.

Quelle:
Kistner, A.: Schicklichkeitsregeln für das bürgerliche Leben. Guben 1886, S. 90-92.
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