Die Weste

[37] Wenn wir uns besinnen – die Weste ist ein klein wenig in Verruf gekommen. Wenn wir an die Modekupfer der achtziger Jahre denken, auf denen die buntgetupften oder paradiesvögelgeschmückten Gilets eine so hervorragende Rolle spielten, und mit diesen die heutigen Modelle unserer Schneiderkataloge vergleichen, so will es uns gar nicht eingehen, daß jene sorgfältig ausgeführten und meterlangen Stoff enthaltenden Ungeheuer und die heutigen, an allen Ecken und Seiten beschnittenen Tuchstreifen dasselbe Kleidungsstück darstellen.

Im Sommer – es braucht nicht einmal heiß zu sein – ist die Weste sogar in Mißkredit. Die ungebügelten Crêpehemden, die weichen Kragen bürgern sich immer mehr und mehr ein, und mit ihnen tritt der Sportgürtel aus sämischem Leder an die Stelle der Weste. Die Amerikaner kamen zu dieser Weisheit bedeutend früher als wir, und objektiv beurteilt muß man ihnen recht geben, wenn sie die Weste als veraltet, überflüssig, unhygienisch, ja direkt verunstaltend hinstellen. Besagter Sportgürtel ersetzt, durch Schluppen des Beinkleides gezogen, sogar die unschönen Hosenträger. In der Berücksichtigung von Farbensymphonien oder Kontrasten kann der Gent von 1913 natürlich nicht dieselben schillernden Effekte erzielen wie vor einem Jahrhundert; doch bieten sich hier der Betätigung eines individuellen Geschmacks weite Möglichkeiten.

Vor noch wenigen Jahren feierten unsere Modeherren Orgien in kühnen Formen. Man liebte zweireihige, tief ausgeschnittene und übereinander geschobene Westen oder bevorzugte so hoch geschlossene, die eine Krawatte fast illusorisch machten. Die unteren Enden waren V-förmig eingeschnitten und von einer ungeahnten, bis auf die Bügelfalten der Hose fallenden Länge.

Und noch einige Jahre früher waren die »bunten« Westen in Schwung mit unglaublichen Blumenmustern, mit Seidenstickereien und eingewebten Fäden, mit goldenen Knöpfen oder Glasboutons, aus grauer Seide oder violettem Sammet. Die Weste[38] war damals ein wertvolles Geschenk, ein in jeder Beziehung wichtiges Kleidungsstück. Heute ist sie eine unliebsame Nebensächlichkeit.

Wogegen ich absolut nichts gegen die blütenweiße Reinheit einer Frackweste sagen will, die in graziös gefälligen U-förmigen oder dreieckigen Linien die grausame Starrheit der weißgestärkten[39] Hemdenbrust umklammert. Ein neckischer Überschlag ist noch gestattet und Perlmutterknöpfe, wogegen ausgeprägte Muster und bunte oder schwarze Knöpfe in den Orkus gehören!


Die Weste

Selbstverständlich gibt es Fälle, wo selbst der korrekteste Gentleman bunte Westen tragen muß. Vor allem beim Sport. Die Polospieler tragen blutrote oder ockergelbe Westen mit mattgoldenen Knöpfen, um die Unterscheidung der einzelnen Teams zu ermöglichen, spanische und indische Polo-Klubs tragen sogar viergeteilte Karo-Westen. Die rote Weste war übrigens so um 1900 zum Zivil salonfähig. Bei den Rasenspielen, besonders Golf, ist eine Lederweste sehr beliebt, aus stumpfem oder Glanzleder, dicht gefüttert und sehr bequem.


Die Weste

Westen aus Kamelhaaren oder Tierfellen dürften als »bunte« die strenge Zensur des internationalen von London aus diktierten Herrenkodex passieren. Und daß die Herrenmode auch nach dem Tode des »King« von London aus bestimmt wird, ist bekannt. Hatte doch der King eine besondere Vorliebe für das Kapitel »Weste«, und die Anekdote des aus Bequemlichkeit offen gelassenen letzten Westenknopfs, den die gesamte »Gentlemanheit« Englands nachahmte, ist Allgemeingut.

Von König Eduard stammen auch die schwarz-gelben, bordeauxroten oder blau-weiß gestreiften Dienerwesten, die seit jener Zeit die vielleicht einzigen Livreewesten geblieben sind. Auf den silbernen Knöpfen befindet sich das Monogramm der Herrschaft. In Westenknöpfen wird von jeher ein bedeutender Luxus getrieben. Die große Mode war eine Zeitlang bunte Steine und kegelförmige Glasknöpfe. Einen besonderen Charakter verraten die Jagdwesten aus mattgrünem Tuch mit Knöpfen, die aus Geweih gefertigt sind, oder blankpolierte, metallgefaßte Zähne des erlegten Wildes.

Quelle:
Koebner, F. W.: Der Gentleman. Berlin 1913, [Nachdruck München 1976], S. 37-40.
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