Jeu

[75] Auf dem breiten Höhenwege Interlakens lustwandeln vor den riesigen Hotels nach dem Abendessen die Kurgäste aller Nationen.


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Auf der einen Seite vergoldet die untergehende Sonne mit rötlichem Schimmer die Spitzen und schneeigen Matten der Jungfrau – auf der andern Seite leuchten in den Vorgärten der Karawansereien in grellfarbigen Klecksen die bunten Lampions aus dem dunklen Grün hervor. Den Mantel über dem Arm, in Frack und Strohhut gehen die Herren, die Zigarette im Munde – in leichter Abendtoilette, ein duftiges Tuch, einen silberdurchwirkten Shawl um die Schultern die Damen. Glattrasierte Amerikaner, lebhaft gestikulierende Franzosen, schlanke, blonde deutsche Frauen, kleine, schwarzhaarige Russinnen. Ohne große Gespräche zu führen, schlendert man die Alleen entlang oder setzt sich auf einen[76] der Stühle gegenüber dem Kursaal.


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Auf der Terrasse verklingen die letzten Töne der »Tosca«. Aus der Mittelhalle des Kursaals surrt ein andauerndes feines Klingelzeichen. Wie auf Kommando leeren sich die Stühle, die Promenaden. Unverblümt oder etwas zögernd verschwinden die Gäste in den Anlagen des Parkes oder in den Hotelzimmern – das Jeu hat begonnen.

So ist es auf Interlakens Höhenweg, so am Luzerner Quai, wo in den violetten Korbstühlen die amerikanischen Millionäre sitzen, so ist es auf Ostendes steingepflasterter Digue und vor dem internationalen Klub in Baden-Baden. In Trouville, wo die Pariserinnen die meterlangen Schleppen über den weißen Meeressand schleifen, und in Aix-les-Bains, wo die Kranken sich im Rollstuhl ins Kurhaus fahren lassen – überall dominiert zu bestimmter Stunde das Jeu, das einzige Gesellschaftsspiel, ohne das die elegante internationale Welt nie auskommen wird.

Wie stark muß die Liebe zum Spiel sein, wenn man berücksichtigt, daß das Jeu hier oft nur ein wirkliches »Spiel« ist – ein Scherz, bei dem die Spieler Beträge riskieren, die sie jeden Abend als Trinkgeld verschenken. Ich will nichts sagen, wenn die Leute von Monte Carlos meerbespülter Terrasse ins Kasino gehen – aber hier, wo der Maximumeinsatz oft nur 5 Francs ist?

In Luzern hat man die »petits chevaux«, wo die numerierten Pferdchen traben, in Interlaken hat man Bälle, die in numerierte Kuten rollen, in Aix-les-Bains fährt eine kleine »chemin de fer«[77] und hält an den verschiedenen, auf separaten Feldern gesetzten Hauptstädten, in Ostende schiebt man eigenhändig rollende Männchen auf die Felder seiner Nationalität.


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Und wo man keine Apparate zum Gesellschaftsspiel hat, bleiben doch noch die Karten. Bridge und Poker, Mauscheln und Whist, Baccarat oder das Roulette.

Von allen Hasardmöglichkeiten ist das Roulette die genialste und gefährlichste. Die Berechnung des Genfer Uhrmachers ist ohne jeden Fehler. Es bietet dem Spieler die vielseitigsten und größten Chancen und gewinnt mit tödlicher Sicherheit. Es gibt bis auf den heutigen Tag Leute, die an ein »System« glauben. Es gibt Hunderte von Existenzen, die vom Verkauf von »Systemen« leben, mehrere Zeitungen, die die täglich herauskommenden Points mit allen nur denkbaren Kombinationen veröffentlichen. Warum es kein »System« geben kann? Und wenn der Spanier (Salas y Gomez oder so ähnlich) im Jahre 1898 auf lumpigen paar tausend Francs drei Nullen hinzugewann, so ist das kein System, sondern unglaublicher Zufall. Doch – ein System gibt es, das viele große Spieler mit Erfolg verfolgen. Am ersten Tage der Ankunft in den Spielsaal gehen und einmal für die Dauer ihrer Anwesenheit einmal einen Maximumsatz riskieren – gewonnen oder verloren – es bleibt der einzige Satz –, und da es niemand sonst in der Welt gibt, der auf einmalige Pari-Chance einem für 6 Mille nochmals 6 hinzulegt, hat diese Art des Spiels eine gewisse Berechtigung. Jedenfalls eine größere, als die 6000 Francs in kleinen Sätzen langsamer aber sicherer zu verzetteln – denn die Bank ist dem Spieler über. Nicht nur durch Berechnung, sondern als starre, eiserne Maschine gegenüber dem aus Nervenbündeln zusammengesetzten Menschen.


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Es gibt Spieler, die fest an eine persönliche Überlegenheit des einen gegenüber dem andern glauben. Die die suggestive Kraft des von seinem Erfolge überzeugten Spielers anerkennen und sie fürchten. Spieler, die aus diesem Grunde nie gegen bestimmte Partner spielen und aufstehen, wenn diese die Bank übernehmen. Und wie zur Illustration dieser Tatsache kennt die[78] internationale Spielerwelt Namen von Leuten, an deren Fersen sich das Glück heftet. Es gibt eine Anzahl solcher »Herren im Spiel«.

Die Spielleidenschaft ist bei den Frauen eine viel größere als beim Manne. Wir finden in Monte Carlo unzählige Frauen, die sich nicht die Zeit eines Imbisses gönnen. Und zwar keineswegs die alten verhutzelten Südfranzösinnen mit nicht einwandfreien Händen, sondern bildschöne, junge Geschöpfe, deren rosiger Teint längst einer wächsernen, leichtgebräunten Bläue gewichen ist, und deren glänzende Augen trübe und fast erloschen über das grüne Tuch irren, wie die Hände, die unbekleidet und nervös mit den Scheinen spielen. Die großen Spielerinnen »arbeiten« meist ohne Handschuhe, während die koketten Französinnen nie ohne lange Handschuhe spielen. Oder wenigstens mit langen, bis zu den Fingerspitzen reichenden Rüschen, durch deren Spitzen die Steine der Ringe schimmern und das matte Gold der Plaques.

Quelle:
Koebner, F. W.: Der Gentleman. Berlin 1913, [Nachdruck München 1976], S. 75-79.
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