Am Telefon

[115] Man stelle sich vor: Ein Mensch betritt unangemeldet die Wohnung eines anderen, stellt sich dort im Wohnzimmer auf und beginnt ein lautes Geschrei, das er alle paar Sekunden wiederholt, bis man herbeirennt und fragt, was er will. Ein unmöglicher Mensch, eine unmögliche Situation? Mitnichten, denn dies tun wir alle; nur gehen wir nicht persönlich in die fremde Wohnung, sondern »beauftragen« das Telefon, für uns Lärm zu machen, bis man uns antwortet.

In Hugo von Hofmannsthals Komödie »Der Schwierige« ruft der Held dem Diener Lukas zu, er solle die »indiskrete Maschine« abstellen. Das war 1919. Heute gibt es keine Lukasse mehr, und man kann das Telefon in den meisten Fällen nicht mehr abstellen. Aber indiskret ist es geblieben, weil es sich in die Privatsphäre anderer Leute eindrängt und dort Lärm macht, ohne zu fragen, ob dies gelegen komme. Wir haben uns heute so an das Telefon gewöhnt, daß wir es uns nicht wegdenken können. Und natürlich wissen wir alle, daß das Telefon absolut notwendig, ja lebensrettend sein kann. Dies, zusammen mit der Unbarmherzigkeit seines Geklingels, hat dazu geführt, daß wir einen hohen »Respekt« vor dem Telefon haben, daß wir zum Beispiel, wenn ein Mensch lebendig neben uns steht und das Telefon klingelt, diesen Menschen ohne weiteres stehen lassen und dem telefonisch Anrufenden eine absolut ungerechte Priorität geben. Dies geschieht sowohl im Privatleben wie in Geschäften.

Wir denken selten darüber nach, ob das so richtig sei. Nur [115] Gian Carlo Menotti, der italienische Komponist (*1911), hat die Sache hinterfragt und in seiner reizenden Kurzoper »Das Telefon« so dargestellt:


Ein junges Mädchen hat Besuch von ihrem Anbeter, der ihr (endlich) einen Heiratsantrag machen möchte. Mehrmals setzt er dazu an, aber immer wieder klingelt das Telefon dazwischen: Freunde melden sich mit irgendwelchen trivialen Angelegenheiten, und sie erhalten selbstverständlich Priorität, während der arme Liebhaber immer wieder stehen gelassen wird. Endlich reißt ihm die Geduld; er läuft weg – nur um sich wenige Minuten später telefonisch zu melden. Nun hört ihm das Mädchen zu, erst geduldig und dann begeistert, und es klappt mit dem Heiratsantrag.


Da wir auf das Telefon nicht verzichten können und wollen, sollten wir uns wenigstens bemühen, die ihm innewohnende »Indiskretion« durch eigene Diskretion zu vermindern. Einige Regeln mögen dabei helfen.

Erstens soll man sich vor jedem Anruf fragen, ob es in diesem Falle wirklich nötig ist, zu telefonieren – siehe unseren Abschnitt: »Warum nicht schriftlich?«, Seite 119. – Ein Liebesbrief ist unendlich »dauerhafter« als ein noch so liebevoller Anruf; ähnliches gilt von einem schriftlichen Dank. Natürlich muß man dazu die Kunst des Schreibens einigermaßen beherrschen, und diese ist heute weit herum außer Kurs geraten: Viele Menschen können keinen ordentlichen Brief mehr schreiben. Aber man darf der »sauren Trauben« wegen nicht alles Schriftliche als altmodisch verwerfen.

Es ist durchaus nicht absurd, ein Telefongespräch vorher schriftlich anzukündigen. Auf jeden Fall ist dies die höflichste Weise, jemand um eine Gunst zu bitten. Also: Ich schreibe kurz, worum es sich handelt und was ich von meinem Adressaten erbitte, füge hinzu, daß ich in den nächsten Tagen anrufen werde, um seine Meinung zu hören und allenfalls Einzelheiten zu besprechen. Dies hat zwei Vorteile: Man fällt nicht mit der Türe ins Haus; der andere hat Zeit, sich die Sache gut zu überlegen. Und es wird ihm nicht zugemutet, auch seinerseits einen Brief zu schreiben. Er wird dankbar sein, daß man ihn nicht zu [116] überrumpeln sucht – und geneigt, meiner Bitte mit Wohlwollen zu begegnen.

Und nun zum Telefonieren selbst. Eines ist klar: Der Anrufende ist immer der »Schuldige«, er ist es, der den anderen in seinen Beschäftigungen und Gedanken stört. Also muß er sich auch besonderer Rücksicht befleißigen. Dies sind die Mindestregeln für Anrufer:

Der Anrufer soll sich deutlich melden. Konkret heißt das: Er soll sich vorher überlegen, wer an den Apparat kommen könnte, und ob ihn diese Person kennt. Dann soll er, wenn möglich, seinem Namen einige Worte vorausgehen lassen, damit sich der Angerufene an seine Stimme gewöhnen kann. Also nicht zackig:

»Schmid!«,

sondern:

»Guten Morgen, Frau X., hier ist Hans Peter Schmid«.

Und wenn es danach aussieht, daß Frau X. ihn nicht kennt, soll er so etwas hinzufügen wie: »aus Basel« oder: »ein Kollege Ihres Mannes«. Bei Anrufen von Firmen beobachtet man oft, daß der Name der Firma und der Name der anrufenden Person zu einem unverständlichen Ganzen zusammengeschmolzen werden:

»Hier Grönerverlagmeyerhofer«,

statt wie einzig richtig, mit einer kleinen Pause:

»Hier Gröner Verlag – Meyerhofer«.

Eine greuliche und häufige Unhöflichkeit besteht darin, daß der Anrufende, sobald sich Frau X. gemeldet hat, loslegt: »Guten Morgen, kann ich Ihren Mann sprechen?« Wer immer das Telefon abnimmt, Frau, Mann oder Kind, tut mir einen Gefallen und hat darum ein Recht auf einige freundliche Worte. Es ist zum Beispiel durchaus angebracht, einer Frau kurz zu sagen, weshalb man ihren Mann anruft, und sie so ein wenig zu orientieren und »mitzufragen«. Wenn Sie sagt, »Da ist er sicher gerne einverstanden«, hat sie selbst ein wenig mitentschieden und kommt sich nicht mehr als bloßer Meldeläufer vor, und der Anrufende hat schon halb gewonnen.

Wenn mich ein Anrufer erst nach einigen vergeblichen Versuchen [117] erreicht hat, so soll er nicht in ein vorwurfsvolles Lamento ausbrechen: »Wo seid Ihr bloß, ach Mensch, ich suche Euch ja schon tagelang!« Erstens ist es stets unerfreulich, wenn die ersten Worte, die wir – am Telefon oder sonst – vernehmen, Klagen und Vorwürfe sind. Zweitens ist es ungerecht, vom Gesprächspartner zu erwarten, er müsse den ganzen Tag präsent sein und auf uns warten; und drittens ist es indiskret, ihn dabei sozusagen zu kontrollieren – hier reden wir natürlich von privaten, nicht von geschäftlichen Anrufen. Schon bei Formulierungen wie: »Ich habe gestern zweimal vergeblich angerufen« geht das, was eine Entschuldigung für eine Verspätung sein sollte, unmerklich in eine Offensive über. Also höchstens: »Jetzt habe ich aber Glück gehabt, habs schon vorher probiert«. Dann liegt das Gewicht auf dem Glück und nicht auf dem Vorwurf.

Weil der Anrufer das Gespräch veranlaßt hat, ist er auch derjenige, der es wieder beenden muß. Auch das traulichste Gespräch muß einmal ein Ende haben. Da ist es nun genau so wie bei einem Besuch: Der Gast soll nicht so lange bleiben, bis man ihn herausschmeißen muß, sondern von selber gehen. Während man aber bei einem Besuch immer genau weiß, wer der Gast und wer der Wirt ist, ist es am Telefon nach längerem Hin- und Herreden oft nicht mehr leicht, zu sagen, wer nun eigentlich der »Gast« war. Darum muß sich der Anrufer stets darauf besinnen; denn seine Pflicht ist es, den Abschied einzuleiten. Und wenn er sich verabschiedet, so darf er auf keinen Fall so tun, als hätte der andere ihn hingehalten. Manche Zeitgenossen haben nämlich die Gewohnheit, einen anzurufen, dann längere Zeit ununterbrochen zu reden, und schließlich das Gespräch mit einer Wendung abzubrechen, die besagt, man hätte ihnen jetzt genug Zeit weggenommen. Eine erfolgreiche Taktik, dem Mitmenschen die Nerven zu zerreißen.


[118] ZU BEACHTEN


Das Telefon ist und bleibt eine »indiskrete Maschine«; darum muß der Telefonierende umso diskreter sein.


Oft verlangt es die Höflichkeit, einen Anruf schriftlich anzukündigen.


Wer den Hörer abnimmt, hat Anspruch auf einige freundliche Worte. Nicht bloß: »Ist Ihr Mann da?«


Keine Vorwürfe, wenn man jemand nicht auf Anhieb erreicht hat.


Der Anrufende ist der »Gast«; er muß sich als erster verabschieden.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 115-119.
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