XVI. Von der Loire nach Le Mans und zurück nach Orleans.

[171] An unserem weltfernen Platz, unter Schnee und Eis vergraben, gelangten die Nachrichten auch im neuen Jahre nur spärlich zu uns. Tagelang blieben oft Zeitungen und Briefe aus. Natürlich stürzte man sich dann mit einem wahren Heißhunger auf die Posttasche, wenn es dem braven Schimmel gelungen war, sich von Stolp bis zu uns durchzuarbeiten und die schmerzlich erwartete, vielgeliebte Posttasche in Sicht war. Richtig in Sicht muß ich sagen, denn der Betreffende, der sie brachte, schwenkte sie schon aus der Ferne wie eine Siegestrophäe, und das wurde dann jedesmal mit stürmischem Jubel begrüßt. Von meinem Manne hatte ich beruhigende Nachricht, er war wieder beim Stabe der 2. Gardedivision angelangt und konnte seinen Dienst ohne Anstrengung versehen.

Aus der Zeitung hatten wir entnommen, daß infolge des am Neujahrstag 1871 erlassenen Befehls Sr. Majestät des Königs Prinz Friedrich Karl die erforderlichen Anordnungen für das Vorrücken der II. Armee getroffen und die 18. Division am 3. Januar den Befehl erhalten habe, nach Orleans zurückzumarschieren. Briefe meines Vaters aus den Januartagen berichten von den Kämpfen seiner Division.

»Château le Loges, 10. Januar. Als ich am 4. Januar in Orleans einrückte, erfuhr ich, daß die Armee gen Westen in Bewegung sei, um im Verein mit dem heranrückenden Großherzoge von Mecklenburg dem General Chanzy mit aller Macht entgegenzutreten. Unser Korps setzte sich tags darauf in Bewegung, überschritt am 6. Januar den Loir bei Fréteval und dehnte seine Quartiere bis Bustoup aus. Tags darauf war ein entsetzlich dichter Nebel, was um so unangenehmer war, da wir auf der großen Straße nach Epuisay mit dem Feinde zusammenstoßen mußten. Kurz vor dem Ort wurden wir aus dem naheliegenden Wäldchen[171] mit drei vollen Salven begrüßt, die nicht nur in die Infanterie einschlugen, sondern auch die nachfolgende Artillerie trafen. Ein Füsilier, mit dem ich eben sprach, stürzte schwer verwundet neben meinem Pferde zusammen. Ich ließ die Höhe, auf der ich hielt, besetzen und vom 11. Regiment und den Jägern das Wäldchen umfassen, das der Feind aufgab und nun von den Truppen verfolgt wurde. Er konnte sich nicht mehr setzen und gab selbst Epuisay aus, um sich nach St. Cloud zurückzuziehen. Die nächsten Tage brachten die anstrengendsten Märsche des ganzen Krieges. Teils kämpften wir uns durch dichtes Schneegestöber hindurch, teils waren die Wege so glatt, daß die Pferde geführt werden mußten und dabei doch noch stürzten und die Wagen in die Chausseegräben rollten. Die Quartiere waren mäßig, für mich wechselte es zwischen großartigen, aber von Franktireurs geplünderten Schlössern, und kleinen Wirtshäusern. Überall, auch im ärmlichsten Quartier, fand ich den großen Kamin mit vorspringendem Sims, auf dem die unvermeidliche Pendule stand, die niemals ging. Unwillkürlich wurde es bei mir dabei zur Gewohnheit, diese sich stets vorfindende Pendule aufzuziehen und in Ordnung zu bringen. Ein Wort über mein jetziges Quartier muß ich Euch doch noch schreiben. Wir haben dies Château le Loges erst nach unendlichem Umherirren aufgefunden. Als wir von der Chaussee herunter und in einen Wald einbiegen mußten, waren die Wege nicht nur verschneit, sondern auch durch die, vom Schnee heruntergedrückten Tannenzweige völlig versperrt. Schließlich entdeckten wir auf einem freien Platz ein unförmliches Gebäude, das Château. Das ganze Ding besteht aus einer Art Treppenturm, in den man durch eine erbärmliche Holzstiege gelangt. Das Innere enthält nur einen Riesensaal mit einem Kamin, in dem man bequem einen Ochsen am Spieße hätte braten können. Daneben ist ein Kämmerlein, so breit, daß gerade ein Tisch und ein Bett darin Platz hat. Eine Leiter höher hauste meine Intendantur, während ich mit meinem Stabe unten wohnte. Aus irgendwie brauchbarem Material sind Tische und Bänke gezimmert, und im Kamin lodert das Feuer, von Baumstämmen genährt. So ist es trotz allem ganz behaglich, und wenn es auch nur auf Stroh ist, so kann man sich des Abends ruhig ausstrecken nach des Tages Lasten.

Gestern früh weckte mich Kanonendonner. Vor mir, und links von mir, stand das III. und X. Korps im Gefecht, rechts von mir schlug sich der Großherzog am Huisnebach. Ich erhielt Befehl, einige Truppenteile nach Thorigné zu senden, zur eventuellen Unterstützung und zur Verbindung mit dem X. Korps. Den Rest meiner Division sollte ich bei Le Loges konzentrieren.[172]

Gegen Abend war der Feind geworfen, und wir konnten in unsere Kantonnements zurückgehen. Ein furchtbares Unwetter mit orkanartigem Sturm und tollem Schneetreiben brach los. Es war schauerlich im Schloß. Die morschen Fenster konnten dem Druck des Sturmes nicht widerstehen, ein Fensterflügel wurde auf mein Strohlager geschleudert, und in dicken Massen folgte der Schnee darauf. Wir stopften mit Tischplatten und Pferdedecken die zertrümmerten Fenster zu, und dabei pfiff und heulte es in den riesigen Schornsteinen so toll, daß man jeden Augenblick den Einsturz des alten Gemäuers erwarten konnte.

Der Kampf, dessen Kanonendonner wir besonders von Arthenay aus gehört hatten, war ein sehr heftiger gewesen, daher will der Prinz meine Division in die erste Linie ziehen. Entsprechende Befehle erwarte ich stündlich.«

»Orleans, den 29. Januar. Wie wird die Heimat und wie werdet Ihr Lieben mit uns gejubelt haben bei der frohen Nachricht von der Übergabe von Paris! Die Truppen hatten sich heute morgen bereits zum Gottesdienst versammelt, als mir der Prinz Ludwig von Hessen ein Telegramm übersandte, in dem die definitive Übergabe von Paris angezeigt wurde. Wir hatten uns die letzten Tage schon mit Friedens- und Heimatsgedanken getragen, nun kam frohe Bestätigung. Das Bataillon stand noch geschlossen auf dem Platze vor der Kirche, und so konnte ich ihnen die herrliche Botschaft gleich mitteilen, was mit einem stürmischen Hurra beantwortet wurde. Aber zwischen dem glücklichen Heute und meinem letzten Bericht liegen ernste Tage, davon sollt Ihr noch hören.

Am 11. Januar waren wir in der Morgenfrühe aufgebrochen und marschierten auf spiegelglatten Wegen über Arthenay nach St. Hubert des Rochers.

General Chanzy war entschlossen, den Widerstand bei Le Mans auf das energischste durchzuführen, und General von Alvensleben faßte alle Kräfte des III. Korps zusammen, um den am Tage vorher begonnenen Angriff fortsetzen zu können. Gegen 12 Uhr war der Kampf vor der Front des III. Korps mit solcher Heftigkeit entbrannt, daß Prinz Friedrich Karl dem X. und IX. Korps Befehl gab, in den Kampf einzugreifen.

Auf dem linken Ufer des Huisne erhebt sich eine vereinzelte Berggruppe, das Plateau d'Anvours. Der Gegner hatte dieselbe stark besetzt und die vorhandenen Örtlichkeiten zur Verteidigung eingerichtet. Vier Mitrailleusen waren vorteilhaft aufgestellt, und eine Batterie flankierte den südlichen Abhang. An die 18. Division erging der Befehl, mit der Avantgarde von Osten her das Plateau zu ersteigen und so die verschanzte Stellung des Feindes in der Flanke anzugreifen. Ich begab[173] mich zum Prinzen Friedrich Karl auf dem Wege nach Champagne, um von dort das Gefecht zu übersehen.

Es wurde nur langsam Terrain gewonnen. Das Ersteigen der schneebedeckten Höhen war sehr schwer. Diese dichtbewachsenen Knicks und zugeschneiten Hohlwege, in denen die Leute bis an die Schultern versanken, waren Hindernisse, die nur mit Aufbietung aller Kraft überwunden werden konnten. Trotzdem wurde der Feind allmählich aus seiner ersten Verteidigungslinie getrieben.

Schweren Schaden erlitten die Truppen durch die Mitrailleuse, und erst als es unseren beiden Batterien gelungen war, sich durch den tiefen Schnee einen Weg zu bahnen und einzugreifen, drang das 11. Regiment im Verein mit den Jägern unaufhaltsam vor. Während diese glücklich die verhängnisvolle Mitrailleuse nahmen, hatte das 85. Regiment einen verzweifelten Kampf zu bestehen. Zwei seiner Bataillone und eine Batterie waren auf der Westseite des Waldes vorgedrungen, um dort gegen die feindlichen Batterien zu wirken. Viel Blut ist dort geflossen, aber die Batterie wurde erobert.

Ich war nicht Augenzeuge dieses letzten Ausgangs, denn ich mußte mich zum rechten Flügel wenden. Die Meldung war angelangt, daß jenseits des Huisnebachs der Feind sich in beträchtlicher Stärke aufbaue. Prinz Friedrich Karl befahl, den Huisnebach zu besetzen und jenseits so viel Terrain zu gewinnen, um eine gesicherte Vorpostenstellung herzustellen.

General von Blumenthal erhielt den Befehl, mit dem 84. Regiment den Auftrag auszuführen, und ich ritt nach Champagne, da ich bereits Gewehrfeuer von dort hörte.

Als ich anlangte, war eben ein sehr energischer Angriff des Feindes gegen die hohe, steinerne Brücke über den Huisnebach von einer Kompagnie der 11er abgeschlagen worden, die im Laufschritt vom Plateau herabgeeilt und dort angelangt war, als die Franzosen kaum hundert Schritt von der Brücke entfernt gewesen.

Es mochte etwa 4 Uhr sein, als Blumenthal die Brücke passierte und gegen die einzelnen Fermen vor ging. Fast ohne einen Schuß zu tun, nur mit dem Bajonett, wurden die einzelnen Fermen genommen, wenn auch teilweise erst nach heißem Kampf. Gegen 7 Uhr hörte das Gewehrfeuer auf, und ein jeder suchte sich vor der tollen Kälte zu schützen.

Auf dem siegreich eroberten Plateau stellte das 85. und 11. Regiment die Vorposten aus, die anderen Truppen wurden in Alarmquartieren untergebracht. Ein Zug deutscher Treue spielte sich in dieser Nacht ab, den ich nicht unerwähnt lassen möchte.[174]

Ein Offizier des 85. Regiments war mit nur sieben Mann auf das Plateau gedrungen, um die Batterie zu nehmen, war aber durch einen Schuß in den Schenkel kampfunfähig gemacht und gefangen worden. Der Sergeant Tamkus, der mit ihm zugleich in die Batterie eingedrungen war, hatte beobachtet, wie man ihn in eine rückwärts gelegene Ferme schleppte, und schlich sich in der Nacht mit vier beherzten Kameraden dorthin durch. Er stieg vorsichtig in das Fenster, trug seinen Leutnant heraus, legte ihn auf die mitgebrachte Tragbahre und ließ ihn von zwei Mann wegschaffen, während er selbst mit den beiden anderen die Bedeckung bildete. Nur das schauderhafte Wetter machte das Gelingen des tollkühnen Wagestücks möglich.

An den feindlichen Vorposten angekommen, gaben diese Feuer auf sie, und Tamkus mit seinen zwei Kameraden nahm sofort den Kampf auf, in dem er verwundet wurde, während die beiden anderen mit der Bahre weiter eilten. Den drei Braven gelang es, sich durchzuschlagen, und zu gleicher Zeit erreichten alle fünf mit dem Leutnant unsere Vorposten, die sie mit Schüssen empfingen, da sie in ihnen den Feind vermuteten.

Dies Mißverständnis hatte aber keine bösen Folgen, und der blutende Tamkus konnte dienstlich melden, daß er seinen Leutnant zurückgebracht habe.

Für diese schöne Tat bekam er das Eiserne Kreuz und auf mein besondere Verwendung noch den russischen Georgenorden. Ich selbst ließ ihm zum Beweise meiner besonderen Anerkennung eine Uhr mit Emblemen anfertigen und erfreute dadurch sichtlich den Braven.

Ein verlassenes Haus in Champagne diente mir und meinem Stabe zum Quartier. Es sah darin recht unbehaglich aus. In meinem Zimmer waren Kugeln durch das Fenster gegangen und hatten die Holzwände des Bettes zersplittert. Tische und Stühle fehlten ganz. Glücklicherweise kam um Mitternacht ›die blaue Taube‹, so nannten wir unseren Bagagewagen, und ich konnte mir Decken geben lassen, um mich vor dem Frost zu schützen.

Für den 12. Januar hatte der Prinz-Feldmarschall beschlossen, mit dem III. und X. Korps die Angriffsbewegung fortzusetzen, mit dem IX. die Höhen von Auvours völlig in Besitz zu nehmen, und eine Brigade dieses Korps zur Unterstützung des XIII. Korps über den Huisnebach vorgehen zu lassen.

Dem Befehl zufolge ließ ich von dem II. Bataillon des 11. Regiments und von vier Batterien den Auvours besetzen. Ich selbst rückte mit dem Jägerbataillon auf das Plateau und sandte von dort zwei Kompagnien bis an den Huisnebach. In dieser Stellung verharrte die Division[175] bis gegen Mittag. Da sank der Nebel, und man konnte deutlich jenseits des Huisnebaches das Abziehen starker Kolonnen nach Le Mans beobachten. Mit großer Anstrengung wurden vier Batterien durch den tiefen Schnee nach dem Westabhange des Plateaus geschafft, wo sie ein so wirksames Feuer auf die dichten Kolonnen eröffneten, daß diese vollständig auseinanderstoben. Blumenthal ging auf direkten Befehl des Prinzen auf dem rechten Ufer des Huisnebaches weiter vor, stellte die Verbindung mit der 17. Division her und warf, mit dieser vereint, den Feind gegen die Sarthe zurück. Das Husarenregiment hatte dabei, trotz der Verbarrikadierung des Parancebaches, denselben überschritten und meldete den vollständigen Abzug des Feindes.

Als ich von den Höhen des Auvours herabstieg, um mich nach Champagne zu begeben, betrat ich mehrere Fermen, wo tags zuvor so heiß gekämpft war. Verwüstung und Tod herrschte überall, aber auch Verwundete fand ich noch, die, halb von Schnee bedeckt, in stiller Ergebenheit ihr Ende erwarteten.

Sobald ich Champagne erreicht hatte, sandte ich eine Krankenträgerabteilung mit Laternen, um die Unglücklichen zu holen. Als ich spät abends noch die Lazarette in der Stadt besuchte, meldete man mir, daß eine große Zahl von Verwundeten gebracht waren. Aber wieviel mögen doch noch dort oben in den tiefen Schneelöchern elendiglich umgekommen sein!

Recht hungrig legte ich mich endlich auf mein Strohlager und war bereits fest eingeschlafen, als ein Offizier bei mir eintrat und mir die freudige Nachricht brachte, Le Mans sei eben vom Feinde geräumt.« (Für diese Gefechte bei Le Mans hat mein Vater den Roten Adlerorden mit Stern, Eichenlaub und Schwertern und das Mecklenburgische, sowie das Großherzoglich Hessische Militärverdienstkreuz erhalten.)

»Wir, d.h. das IX. Korps, rückten nun nach den siegreichen Kämpfen in Quartiere nördlich von Le Mans, während das III. und X. Korps den Ort selbst besetzten. Am 13. zogen wir in Containes ein. Da gab es ein reinliches, gut durchwärmtes Zimmer bei einem Fabrikbesitzer. Ein sauber gedeckter Tisch mit ein paar Flaschen Wein empfing uns, und das alles machte auf mich einen äußerst wohltuenden Eindruck, denn seit Orleans hatte ich mich nicht einmal aufwärmen können, und reine Wäsche gehörte überhaupt zum größten Luxus. Die kleine Wirtin, die mit der dampfenden Suppenschüssel eintrat, grüßte sehr artig und fragte nach meinen weiteren Befehlen. Sie meinte, da nun einmal die verwünschten Preußen ins Land gekommen wären, müsse man ja alles tun, was sie verlangten, aber mit heiler Haut würden sie das Land sicher nicht verlassen, das wäre ihr sehnlichster Wunsch als echte Französin.[176]

Trotz dieser eigentümlichen Begrüßung wurde ich in dem Hause förmlich verzogen. Madame brachte alle Speisen eigenhändig, würzte sie aber jedesmal mit wenigstens einer Verwünschung der nordischen Barbaren.

Als wir nach drei Tagen weiterrückten, fand ich meine Wirtin in Tränen, und als ich nach ihrem Kummer fragte, erhielt ich zur Antwort: ›Ich bin darüber empört, daß alle preußischen Offiziere, die ich kennen gelernt habe, gebildete und liebenswürdige Leute waren, und unsere Offiziere dagegen, ce sont des lâches et des polissons!

Unser Marsch ging über Sarthe nach Conlie. Der Pfarrer, bei dem ich dort einquartiert war, gab mir ein Stübchen, in dem viele französische Generale gewohnt haben sollen, zuletzt auch der von den Franzosen so allgemein verehrte Oberst Charette. Der Pfarrer, der allmählich Zutrauen zu mir gewann, erzählte mir, daß er gehört und gesehen habe, wie ein Unteroffizier in der unziemendsten Weise, wegen vermeintlicher Gehaltskompetenzen, jenen Obersten zur Rede gestellt habe und zuletzt in der Leidenschaft seinen Vorgesetzten in den Kinnbart gefaßt und gerauft habe. In tiefer Bewegung setzte mein ehrwürdiger Wirt hinzu: ›Sehen Sie, das ist unser Fluch. Keine Subordination! Keine Disziplin! So etwas kennt man bei uns nicht mehr! Daran geht unser herrliches Frankreich zugrunde!‹ Außerdem vertraute mir der alte Herr noch an, daß die Anlage und Ausstattung des großen Lagers von Conlie, neben dem wir uns befanden, 24000000 Frank gekostet habe.

Tags darauf ritt ich mit meinem Adjutanten in das vielbesprochene Lager. Etwa 1500 Schritt vom Orte entfernt erhebt sich ein langgestrecktes Plateau, das von Wällen und Gräben umgeben ist. Hunderte von Zelten und Holzbaracken waren dort aufgebaut und gewährten wohl für 60000 Mann Unterkunft. Viele Geschütze krönten die Front, und Befestigungen aller Art waren an den steilen Böschungen angebracht. Große bedeckte Lagerräume mit den schönsten Nahrungsmitteln angefüllt, die meinen abgehetzten Leuten trefflich zustatten kamen, dehnten sich hier aus, während sich in den Baracken ein enormes Kriegsmaterial vorfand. Oberst von Falkenhausen war mit der Aufräumung des Lagers beschäftigt, das nachher angezündet werden sollte. Ich nahm mir zum Andenken einen Revolverkarabiner mit und will ihn später der Schützengilde zu Stolp, deren Ehrenmitglied ich bin, feierlich verehren.

Am Abend vernahm ich plötzlich ein betäubendes Getöse, das mir wie ein heftiges Gefecht erschien. Ich eilte ans Fenster und hatte da einen großartigen und ganz eigentümlichen Anblick. Die Holzbaracken des hochgelegenen Lagers standen in Flammen, und die Millionen von[177] Patronen erzeugten durch ihre Explosion ein fortwährendes Geknatter, das toller war, als ich es in der heftigsten Schlacht je gehört habe. Aus diesem Flammenmeer schossen andauernd Blitze gen Himmel, und dazwischen krepierten noch einzelne dort umherliegende Granaten, so daß es einen Höllenlärm abgab. Das währte die ganze Nacht und war so großartig und weitleuchtend, daß meine sämtlichen Kantonnements alamierten und Patrouillen hersandten. Noch am nächsten Tage brannte das Lager, und bis tief in die Nacht wälzten sich sprühende Rauchmassen aus dem Feuerherde den Berg hinab.

Die nächsten Tage führte uns der Marsch an den bekannten Kampfstätten vorüber durch Le Mans, am Huisnebach vorbei bis hin nach Orleans, wo ich mit meiner Division gestern einrückte und noch die hessische vorfand.«

»Orleans, den 16. Februar. Bis zum 19. dauert die Waffenruhe. Wir haben uns hier in Orleans gut ausgeruht, bald werden wir den Rückmarsch antreten!

Am Tage, als wir die Nachricht von der Übergabe von Paris erhielten, war ich abends zum Diner bei dem 36. Regiment, bekam aber da ganz plötzlich so heftige Unterleibsschmerzen, daß ich fort mußte. Der herbeigerufene Arzt nahm eine Vergiftung an, und da die Schmerzen sich bis zur Unleidlichkeit steigerten, auch große Mattigkeit eintrat, wurde noch der Geheimrat Langenbeck zugezogen. Die beiden Ärzte haben sich redlich mit mir abgemüht, meine durch und durch gesunde und widerstandsfähige Natur tat das ihrige dazu, und so konnte ich mich durch Gottes Gnade nach acht Tagen als hergestellt betrachten und herzlich froh die Morgenmusik genießen, die mir als Freudenausdruck über meine Genesung gebracht wurde. In dem Gasthause ist übrigens auf das beste für mich gesorgt worden. Ganz besonders muß ich aber meinen braven Diener Friedrich rühmen, der mich mit rührender Treue gepflegt und die Nächte auf der Erde vor meinem Bett zugebracht hat.

Jetzt in dieser Zeit der Ruhe habe ich mir auch Mühe gegeben, noch Näheres über die Pucelle d'Orléans von 1871 zu erfahren, und das ist mir auch gelungen.

Als ich in La Chapelle das II. Bataillon der 11er besichtigte, lud mich der dortige Maire zum Frühstück ein. Der Mann war ganz redselig und erzählte auch endlich die näheren Verhältnisse betreffs des Auftretens der neuen Pucelle d'Orléans. Im großen und ganzen stimmt das so ziemlich mit den Gerüchten überein, die mir bisher zu Ohren gekommen waren. Nach den Angaben des Maire soll diese Jungfrau ein wunderbar schönes Kuhmädchen sein aus der Ferme seines Schwagers,[178] die bei Clery liegt. Mönche und Fanatiker haben sie für die Rolle gewonnen und dazu einstudiert. Als Tann sich aus Orleans zurückziehen mußte, erschien das schöne Mädchen in einem fantastischen Putz, und man verbreitete die Nachricht, daß ihr Nahen den Feind vertrieben habe. Infolgedessen war großer Jubel in Orleans gewesen. Sämtliche Honoratioren und Bischöfe hatten ihr ein glänzendes Diner gegeben in dem jetzt von mir bewohnten Gasthause zur goldenen Kugel. Tags darauf war dann der großartige Umzug in der Stadt gewesen, dessen Glanzpunkt, wie ich schon in Orleans erfahren, darin bestanden hatte, daß die neue Jungfrau an dem Standbilde der alten mittels einer Leiter heraufgestiegen war und der ersten Pucelle d'Orléans eine gläserne Krone aufgesetzt hatte. Bis zu den Tagen unseres Angriffes auf Orleans hatte diese Person tatsächlich in der Stadt eine große Rolle gespielt, doch in dieser unsicheren Zeit ist sie spurlos verschwunden und hat, wie ich das schon in Orleans hörte, durch die Mönche verkünden lassen – ihre Zeit sei noch nicht gekommen. Jetzt, so versichert mir der Maire, sitzt sie tatsächlich wieder in Clery und melkt Kühe.

Übrigens habe ich mir in Orleans das Haus der Jungfrau Nr. 1 angesehen. Es bietet nicht viel Reiz und dient jetzt zu Privatzwecken, ebenso wie das Zimmer von Agnes Sorel, das ich ebenfalls besichtigte.

Auch die Gemächer der holden Diana von Poitiers ließ ich mir zeigen und fand dort ein Museum eingerichtet, das mich wenig interessierte. Alle drei Erinnerungsräume hatten meine Neugierde erregt, die aber keine Befriedigung fand.«

Quelle:
Liliencron, Adda Freifrau von: Krieg und Frieden. Erinnerungen aus dem Leben einer Offiziersfrau, Berlin 1912, S. 171-179.
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