XVIII. Dunkle Wolken.

[190] Ungemischte Freude pflegt keinem Sterblichen zuteil zu werden. Wenn es meinem Vater vergönnt war, während seines Lebens in reichem Maße den Kelch des Ruhms und Glücks zu leeren, so mußte er auch die Wolken kennen lernen, die nirgend ausbleiben und auch über sonnige Höhen aufsteigen. So war für meinen Vater die Ernennung zum Gouverneur in Posen im Juni 1872 ein harter Schlag, und schweren Herzens begab er sich zur Meldung seines neuen Postens zum Kaiser. Der Hohe Herr drückte meinem Vater die Hand und sagte in seiner herzgewinnenden Weise: »Ich freue mich aufrichtig, einen so wichtigen Punkt wie Posen in Ihre bewährten Hände legen zu können.«

Dieses warme Wort aus dem Munde seines vielgeliebten Kaisers war für meinen Vater diesmal eine wahre Erquickung und Stärkung.[190]

Das Scheiden vom lieben Holstenlande wurde meinen Eltern sehr schwer, und allgemein betrauerte man ihr Weggehen. Aufrichtige Anhänglichkeit wurde ihnen bis zuletzt gezeigt, und gegenseitig fühlten sich die Bleibenden und Scheidenden fest miteinander verbunden.

Die Stadt Flensburg machte meinen Vater zum Ehrenbürger, und eine Deputation des Magistrats überbrachte ihm das Diplom dazu. Auf verschiedenen Abendessen und bei dem großen Festzuge der Einwohnerschaft vor seinem Hause am letzten Abend sprachen die getreuen Holsten in warmen Worten ihre stete Treue und Anhänglichkeit aus.

In Posen empfing der Kommandierende General, Exzellenz Graf Kirchbach, meinen Vater außerordentlich herzlich. Die beiden Herren hatten schon früher in Berlin in freundschaftlichen Beziehungen gestanden, die jetzt mit Freude erneuert wurden. Das Generalkommando und das Gouvernement lagen nur wenige Schritte voneinander entfernt, und fast täglich konnte man die beiden Herren auf dem Wilhelmplatz, an dem das Generalkommando wie das Gouvernement lag, spazierengehen sehen.

Am 2. September 1873 erhielt mein Vater den Charakter als General der Infanterie und gleichzeitig den Roten Adlerorden erster Klasse.

Dieser Sommer hatte uns eine wehmütige, ernste Zeit gebracht. Wir hatten mit einem toten Kindchen eine frohe Hoffnung hingeben müssen, und wenn ich auch nicht, wie bei der Geburt meiner Tochter, wochenlang todkrank gewesen war, so blieb ich doch ein paar Monate an den Rollstuhl gefesselt und konnte auch im Herbst noch nicht ohne Stock gehen. Mein geliebter Mann suchte mir in rührender Weise mein Gebundensein zu erleichtern, und als Ersatz für das Reiten, das ich jetzt eine Zeit aufgeben mußte, schaffte er einen kleinen Wagen an, spannte eins seiner Reitpferde ein, und so fuhren wir täglich zusammen durch die schöne Umgegend Potsdams.

Eine Erinnerung, die mir deshalb so besonders lieb ist, weil sie mich wiederholt mit einem der bedeutendsten Männer jener Zeit zusammenführte, waren unsere Besuche im Generalstabsgebäude bei dem Feldmarschall Grafen Moltke, dem »großen Schweiger«.

Da meine Schwiegermutter in ihrer Jugend eng befreundet gewesen war mit der Mutter der Gräfin Moltke, so gestaltete sich unser Verkehr dort im Hause des Feldmarschalls völlig ungezwungen, und mit herzlicher Dankbarkeit gedenke ich der unvergeßlichen Stunden, die wir dort verlebten. Auch im engen Familienkreise beharrte der Graf bei seiner großen Schweigsamkeit, wenn er aber dann hin und wieder in knappen, aber scharf gezeichneten Zügen diese oder jene Episode aus dem Kriege beleuchtete, dann machte das um so mehr Eindruck und die Sache prägte[191] sich ganz besonders deutlich dem Gedächtnis ein. Trotz aller Wortkargheit des Feldmarschalls trat das harmonische Bild eines besonders glücklichen Ehelebens so deutlich in die Erscheinung, daß es schon allein deshalb Freude bereitete, mit dem gräflichen Paar zusammen zu sein. Die viel jüngere Frau war dem ernsten Manne im vollsten Sinne des Wortes ein guter Kamerad. Soviel es die Verhältnisse gestatteten, teilte sie alles mit ihm, und er, der Hochgefeierte, fand sein Glück nicht nur in der bedeutungsvollen Arbeit, die es ihm vergönnt war zu leisten, sondern zugleich in dem Besitz seiner klugen und liebenswürdigen Lebensgefährtin.

Ich entsinne mich einer kleinen Episode, eines wunderhübschen Bildes, auf das der Graf mit einem gewissen freudigen Stolz herabblickte. Die Reitpferde des gräflichen Paares hatten sich losgerissen, waren dem Stall entschlüpft und tobten im Hofe umher. Kutscher und Reitknecht versuchten vergebens, sich den Tieren zu nähern, um sie einzufangen. Sie stiegen oder feuerten aus und wußten sich vor Übermut nicht zu lassen. Besonders machte der Hengst, der auch zeitweilig böse sein konnte, jede Annäherung unmöglich. Da erschien die Gräfin im Hofe, rief die Pferde bei Namen und ging ihnen furchtlos entgegen. Gehorsam, wie ein paar treue Hunde, kamen beide an, fraßen den Zucker aus ihrer Hand, beschnubberten sie und rieben die Köpfe an ihrer Schulter. Sie sprach mit den schönen Tieren, streichelte und klopfte sie dabei, und mit ihnen vorwärtsschreitend, lockte sie beide in den Stall zurück. Strahlend sah sie dabei hinaus nach dem Fenster, an dem der Graf stand, und nickte ihm zu. Der sagte kein Wort, aber auf seinem Gesicht stand deutlich zu lesen, wie er sich an der kleinen Szene freute.

Es war an einem sonnigen Novembertag, die Herren ritten zur Parforcejagd hinaus, mein Mann aber blieb zurück, weil er mich spazieren fahren wollte und die eingespannten Reitpferde nicht einem anderen anvertraute, wenn ich im Wagen saß. Persönlich überwachte er das Anspannen, während ich mit unserem Töchterchen vor dem Hause auf und ab ging. Es währte auffallend lange, und ich schickte die Kleine hinein, um nach der Ursache der Verzögerung zu fragen. Mit ihren flinken Beinchen konnte sie schnell hin und her laufen, während mir das Gehen schwer fiel und ich auf der Straße noch immer den Stock gebrauchen mußte beim Gehen. Die Kleine kam nicht zurück, und dadurch beunruhigt, ging ich ihr nach. Im Hof sah ich unseren kleinen Wagen, doch die Pferde waren nicht angespannt. Meines Mannes Fahrpeitsche lag zerbrochen daneben, und eine breite Blutspur führte durch den Garten die Steinstufen hinauf in unsere Wohnung. Die Flügeltüren standen weit geöffnet, und während ich, so schnell ich es vermochte,[192] hindurchschritt, hörte ich ein Schluchzen. In Tränen aufgelöst fand ich unser Kind, sie hatte sich fest in den Fensterschal eingewickelt und wollte sich nicht von mir sehen lassen.

»Mutti, ich darf dir nichts sagen«, schluchzte sie ganz außer sich.

Ehe ich auch nur einen Gedanken fassen konnte, was überhaupt geschehen sei, war ich schon in meinem Wohnzimmer und stand vor meinem Manne. Er lag blutüberströmt auf meinem Ruhebett, der Diener, der um ihn beschäftigt war, deckte, als er mich eintreten sah, ein Tuch über sein Gesicht. In dem Augenblick war ich keines Wortes fähig.

»Die braune Stute hat beim Anspannen ausgeschlagen und den Herrn Leutnant an den Kopf getroffen«, stammelte der Diener, und um mich etwas zu beruhigen, fügte der treue Mensch hinzu, »der Herr hielt gerade den Peitschenstock hoch, das hat ihn noch etwas vor dem Schlag geschützt – und der Doktor muß auch gleich hier sein, er fuhr eben vorbei, der Bursche ist ihm nachgelaufen.«

Da trat auch schon unser alter Hausarzt ein. Er hob das Tuch, beugte sich über meinen Mann und wandte sich dann zu mir. »Bleiben Sie stark, gnädige Frau, keine Träne«, sagte er, »Ihr Mann muß Sie völlig ruhig finden, wenn er wieder zum Bewußtsein kommt, es hängt Leben und Tod davon ab.«

Daß ich wirklich ohne Tränen bleiben und mechanisch alles zu tun vermochte, was der Augenblick von mir forderte, war eine Gnade Gottes, für die ich nicht genug dankbar sein konnte.

Unser Hausarzt fuhr davon, um einen zweiten Arzt zu holen, und als die Herren zurückkamen, mußte ich ihnen berichten, daß zugleich mit dem Blutbrechen ein Bluterguß aus dem Ohre stattgefunden habe.

Der neu hinzugekommene Arzt schüttelte den Kopf. »Sie werden sich geirrt haben, gnädige Frau, denn wäre das der Fall, so hätte die Schädeldecke einen Sprung erhalten, und dann wäre der Verstand weg«, erklärte er.

Kaum aber hatte er ausgesprochen, so wiederholte sich vor seinen Augen, was er mir eben hatte ausreden wollen. Nun konnte er seine Worte nicht mehr zurücknehmen, und neben allem namenlos Schweren, das vor mir lag, wenn ich auf meinen so heißgeliebten Mann sah, tauchte ein dunkles Zukunftsgespenst vor mir auf.

Ein dritter Arzt wurde aus Berlin zugezogen und kam ein paar Stunden später. Auf meinen angstvoll fragenden Blick, als er meinen Mann untersucht hatte, antwortete er mir: »Bei Gott ist kein Ding unmöglich.« Ich fühlte, daß sie alle den Fall als einen hoffnungslosen ansahen.[193]

Stroh wurde auf die Straße vor unser Haus gestreut, die Klingeln abgenommen, und still, ganz still wurde es.

Nun kamen die Reiter von der fröhlichen Parforcejagd zurück. Wie hatte ich mich immer gefreut, wenn mein Mann so vergnügt im roten Rock nach Hause kam und mir den Bruchzweig reichte, der ihm angesteckt war. Heute traten andere Rotröcke bei mir ein, die Kameraden meines Mannes. Ernst und erschüttert von der Nachricht, wechselten sie im Flüstertone ein paar Worte mit mir an dem Lager des Bewußtlosen. Mein Schwager war einer der ersten, der kam, und unvergeßlich wird es mir bleiben, wie er mir in tiefer Bewegung die Hand drückte und sagte: »Könnte ich dir diesen Schmerz doch abnehmen, und könnte ich lieber an Stelle deines Mannes hier liegen.«

In der Nacht trafen meine Eltern ein, und mein Mutterchen übernahm die Aufsicht über unser Kind, denn ich wollte mich ungeteilt der Pflege meines Mannes widmen.

Nach zwei Tagen kehrte zum erstenmal ein Schimmer von Bewußtsein bei ihm zurück. Ich stand mit dem Arzt an seinem Bett, als er die Augen aufschlug, mich ansah und dann langsam, nur murmelnd, aber doch verständlich sagte: »Mein geliebtes Weib.«

Das war in dunkler Nacht der erste Hoffnungsstrahl für mich, und der wirkte fast überwältigend. Der ernste Blick des Arztes erinnerte mich daran, was davon abhing, daß ich ruhig blieb. Ich preßte die Hände so fest aneinander, daß sie schmerzten, um Fassung zu behalten, und konnte mit leidlich klarer Stimme fragen, wie er geschlafen habe.

Von dem Augenblick an erkannte er mich immer, und ich durfte nicht mehr von seiner Seite gehen. Allen anderen aber gestatteten die Ärzte nicht den Zutritt; auch meinen Eltern und meiner Schwiegermutter, die gerade in Potsdam war, als das Unglück sich ereignete, wurde es nicht mehr erlaubt, meinen Mann zu sehen. Mit unserem prächtigen, treuen Diener teilte ich mich nun in der Pflege. Tags über war ich da, und in der Nacht wachte der brave Arnsmann. Ich ruhte indessen auf einem Sofa, nur durch Vorhänge vom Krankenzimmer getrennt, damit ich alle hören und schnell hineinhuschen konnte, sobald mein Mann wach wurde, denn er nahm von niemand anders die Medizin, erregte sich auch sofort, wenn er mich nicht sah, und schlief nur ein mit meiner Hand in der seinen. Das brachte ihm die so notwendige Ruhe. Schwere Anfälle von Schüttelfrost traten wiederholt in den Nächten auf mit Begleiterscheinungen, von denen ich durch die Ärzte wußte, daß sie diese Symptome als Vorboten des Todes ansahen. Während sonst das Erkennen meiner Person das einzige Zeichen von Bewußtsein und Erinnerungsvermögen bei meinem Manne war, trat in solchen Stunden eine teilweise[194] Klarheit ein. Er fühlte die Nähe des Todes, nahm Abschied von mir, bestimmte das Lied »Befiehl du deine Wege«, das bei der Trauerfeier gesungen werden sollte, und bat, daß sein Lieblingspferd, von dem er den Schlag erhalten hatte, hinter dem Sarge geführt werden möchte.

Eingedenk der Mahnung des Arztes, auf alle seine Ideen einzugehen und immer die Ruhe zu bewahren, besprach ich dann, so wie er es wollte, den bitteren Todesweg bis in alle Einzelheiten. In solchen Augenblicken Fassung zu bewahren, erschien mir das Schwerste in dieser ganzen Zeit. Aber wie auf der Reise nach Frankreich, kam es mir auch hier voll zu Bewußtsein, daß Gott seinem schwachen Kinde die geistigen und körperlichen Kräfte stärkt, wenn er von uns Opfer fordert oder uns Pflichten auferlegt, von denen wir meinen, wir wären kaum imstande, sie zu erfüllen. Nur betend vermag man sich da durchzuringen, aber dann gewinnt man auch festen Fuß, um getrost seinen Weg weiter gehen zu können.

Abgeschlossen von der Außenwelt, von der nur, wie aus weiter Ferne, die besorgten oder teilnehmenden Stimmen zu mir drangen, hatte ich mich so völlig in den Gedankenkreis meines Mannes eingesponnen, daß ich das Gefühl hatte, den Scheidenden in die Todesnacht hinein zu begleiten, bis zur letzten Stufe, die uns Menschen möglich ist. – Wider alles Erwarten der Ärzte trat langsam eine Wandlung in dem Zustande meines Mannes ein. Nach sechs Wochen erwachte ein Schimmer von Erinnerung, und er fragte mich: »Haben wir nicht ein Kind?«

Als ich nun vorsichtig sein Gedächtnis zu wecken suchte und ihm von der Kleinen erzählte mit den blauen Augen und dem langen Blondhaar, das ihr tief über den Rücken hing, da entsann er sich des Kindes und verlangte ungestüm sie zu sehen.

Ganz blaß vor Erregung und Freude, endlich zu dem kranken Vater herein zu dürfen, stand die Kleine nun an seinem Bett. Ich hatte ihr gesagt, wie sanft und leise sie mit ihrem Väterchen sein müsse, und wie sie nicht weinen und nichts tun dürfe, was ihn traurig machen könnte. Um sie durch einen leisen Druck zu warnen, wenn ein unvorsichtiges Wort unserer Achtjährigen entschlüpfen sollte, hatte ich die Hand auf ihre Schulter gelegt. Als mein Mann seinen kleinen blonden Liebling sah, tauchte die Erinnerung klar bei ihm auf und er war tief ergriffen. Unser Kind war so brav und verständig, daß sie von da ab täglich auf kurze Zeit hereinkommen durfte.

Die Genesung ging nun mit raschen Schritten vorwärts, die geistigen und körperlichen Kräfte kehrten zurück, und wenn auch große Schonung nötig war, so konnten wir doch im Januar zu meinen Eltern nach Posen gehen.

Quelle:
Liliencron, Adda Freifrau von: Krieg und Frieden. Erinnerungen aus dem Leben einer Offiziersfrau, Berlin 1912, S. 190-195.
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