XIII. Keine schlechten Operntexte mehr!

[245] Der genialste Operndichter, den Deutschland bis jetzt gehabt, war – Schikaneder, und das beste Muster für Operntexte liegt vor in dem Libretto – zur Zauberflöte.

Dies will ich beweisen.

Was verlangt das Publikum von jedem Theaterstück?

Zuerst und vor Allem Neuheit.

Neu, originell im höchsten Grade war die Zauberflöte, in allen Beziehungen, und darum hatte sie einen so ungeheuern Erfolg. Es kommt Wenig oder Nichts auf die Fabel an, »der wahre Dichter macht aus jeder durch geschickte Ausführung ein[245] gutes Theaterstück«, hat Lessing gesagt, und der muß es gewußt haben. Indessen ist auch die Fabel zur Zauberflöte nicht zu verachten. Ein liebenswürdigster Prinz wird von höchstseinen Vater Kaiserl. Majestät in die Fremde geschickt, um Weisheit zu suchen. Ist das nicht originell? Er findet sie, und eine schöne Prinzessin dazu als Gemahlin. Das letztere ist allerdings an sich nicht originell. Die Originalität liegt aber in dem Wege zum Ziele und in den Hindernissen dagegen.

Man überblicke alle Scenen der Zauberflöte, von der ersten an, in welcher Tamino von der schrecklichen Schlange auf die Bühne getrieben wird, bis zur letzten mit der strahlenden Sonne (welche von der späteren Meyerbeer'schen nicht verdunkelt wird), und sage, ob irgend eine Oper eine reichere, originellere, mannigfaltigere und contrastirendere Situationenreihe aufzuweisen hat. In prägnantester Kürze, Schlag auf Schlag, folgen die sonderbarsten, fantastischsten Ereignisse aufeinander.

Außer solchen Vorzügen verlangt der Theatergänger interessante, neue Figuren. Wer hat Schikaneder an origineller Schöpfungskraft übertroffen? Tamino und Pamina, Papageno und Papagena, Sarastro und die Königin der Nacht, die drei schwarzen[246] Damen und die drei holden Knäblein, Monostatos der Mohr etc. Und wie ist für das Auge gesorgt; durch Feuer- und Wasser- und sonstige fantastische Decorationen! Den Kindern wird sogar eine Menagerie seltener Thiere vorgeführt. Kommt das ganze Publikum einen Augenblick zu sich vor all dem Merkwürdigen und Interessanten, das ununterbrochen an ihm vorüberzieht? Und so leugne, wer kann, daß der Text zur Zauberflöte der allerbeste sei.

Die Vorzüge des Dichters kommen natürlich dem Componisten zu Gute; denn originelle Situationen und originelle Figuren rufen in dem echten Componisten originelle Musik hervor.

Sehen wir aber specieller auf das, was die Entfaltung des Tongenie's vorzüglich erleichtert, auf den lyrischen Theil dieses Textes, so muß man Schikaneder bewundern und verehren wegen der unendlichen Mannigfaltigkeit von Seelenzuständen, Affecten, Gefühlen und Leidenschaften, welche er aus seinen Personen und deren Situationen zu ziehen verstanden hat. Seht doch nur, in welchen verschiedenen Phasen und Abstufungen er die eine millionenmal benutzte Ingredienz aller Opern, aller Dramen, ja aller Dichtungsarten, die Liebe, in seiner Oper darzustellen gewußt hat! Die zarteste, feurigste, innigste und edelste[247] in Tamino und Pamina; die pure, unschuldige Natur in Papageno und Papagena (die gleich bei ihrer ersten ausführlichen Unterredung von ihren zukünftigen vielen kleinen Papageno's und Papagena's sich aufs Ungenirteste unterhalten); die halb lüsterne der drei Damen beim Anblick des schönen, prinzlichen Jünglings; die rohsinnliche Gluth des Mohren! Außerdem giebt es aber in dem geheimnißvollen, tiefen Grunde des Gemüthes kaum eine bedeutende Erscheinung, die Schikaneder nicht für den Componisten aufgewühlt und in den Text gezeichnet hätte. Furcht, Mitleid, Rührung, Muth, Wuth, Rache, Entzücken, Verzweiflung, Klage, Wahnsinn, neckischer Scherz, erhabene, heilige Ruhe etc. etc., wodurch es Mozart möglich wurde, alle Toncharactere und Formen vom erhabenen, heiligen Kirchenstyl bis herab zum volksmäßigen Liede, wie in keiner andern Oper, zu entfalten.

Ob es mir mit diesen Bemerkungen Ernst sei? Vollkommen; freilich mit den folgenden auch.

Alle genannten Vorzüge werden von zwei Schwächen so vollständig geschlagen, daß anstatt einer vernünftigen Handlung kaum mehr als ein regelloser, läppischer Traum an uns vorüberzieht. Lächerliche Sprache heißt die eine Schwäche, gänzlich fehlende oder kindische Motivirung die andere.[248]

Und nun sehen alle Dichter von Talent, was sie zu thun haben, wenn sie die allerschönsten Operntexte machen wollen.

Sie brauchen sich nur Schikaneders Vorzüge anzuschaffen und seine Schwächen zu vermeiden!

Von der Sprache rede ich nicht, diese haben alle jetzigen Dichter so ziemlich in der Gewalt. Mit der Motivirung aber ist's so, so! So dummes Zeug wie das von Schikaneder wird freilich nicht leicht mehr fabricirt, aber Verstöße recht derber Art kommen doch in den meisten unserer dramatischen Dichtungen und namentlich Opern noch genug vor!

Richtige Motivirung der Thaten, Gedanken und Gefühle aller dramatischen Personen ist freilich eine schwierige Aufgabe, die selbst den größten Dichtern nicht immer gelungen ist. Vollends in einer Zauberoper, wo der verwickeltste Knoten durch übernatürliche Kräfte, durch einen Talisman, ein Zauberwort etc. gleich gelöst werden kann. Hier wirkliche Furcht, wirkliche Spannung, wirkliches Mitleid etc. in dem Zuschauer entstehen zu machen, dazu gehört eine außerordentliche Motivirungskunst.

Es giebt indessen aller Wahrscheinlichkeit nach (gewiß will ich's nicht behaupten, weil ich's nicht versucht)[249] gar Nichts noch so Tolles, noch so Unwahrscheinliches, was nicht durch eine geschickte Motivirung plausibel zu machen wäre. Ich halte es z.B. für keine unlösbare Aufgabe, die Handlung der Zauberflöte dergestalt zu motiviren, daß aus der lächerlichen Theatermache ein wirklich dramatisches Kunstwerk werde. Ebenso halte ich es nicht für unmöglich, die Kinderei »Cosi fan tutte« in eine vernünftige Geschichte umzumotiviren, so oft dieser Versuch auch schon mißlungen ist. Shakespeare, Lessing, Goethe hätten es vollbracht. Des Ersteren Größe liegt zur Hälfte in seiner wunderbaren Motivirungskunst. Die alten Novellen, Balladen oder vorhandenen Stücke, welche er als Stoffe benutzt, sind in der That oft nicht viel besser, als die Texte zur Zauberflöte, zum Donauweibchen u.a.m. Aber indem er zu jedem Ereigniß, zu jeder That, zu jedem Gefühl die nothwendige natürliche Ursache brachte, verwandelte er die rohen Geschichten in wahre, tiefergreifende Dramen.

Das ganze Geheimniß, die allerschönsten Operntexte zu liefern, liegt demnach in der einfachen Formel:

Erfindet wie Schikaneder und motivirt wie Shakespeare und Goethe.[250]

Quelle:
Lobe, Johann Christian: Aus dem Leben eines Musikers. Leipzig 1859, S. 245-251.
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