Nochmals: Die Tanzerei. Tanzordner. Büffet.

[187] Ich erwähnte schon einmal, daß in Amerika die Damen im Allgemeinen mit größerer Zuvorkommenheit behandelt werden, als bei uns in Deutschland. Es ist mir nun ein Feuilleton-Artikel der »Frankfurter Zeitung« zugegangen, in dem eine Amerikanerin sich unter Anderem über einen, in meiner letzten Plauderei behandelten Punkt äußert, nämlich darüber, daß es bei uns einer Dame vielfach verübelt wird, wenn sie einen Tanz ablehnt. Die Amerikanerin erwähnt diese Intoleranz, daß man der Dame ihren freien Willen nicht lassen will, als ein Zeichen der nicht allzu großen Verehrung der deutschen Frau; sie spricht von einem bei mehr oder weniger öffentlichen Tänzen herrschenden Brauch, z.B. im Kursaal eines Badeortes. Auch auf unsere Tanzfeste bei Wohlthätigkeitsvorstellungen können sich die nachfolgenden[187] Worte der Amerikanerin beziehen: »Da sitzen die Damen und haben vielleicht befreundete Herren genug um sich, mit denen sie recht gern tanzten. Da kommt plötzlich ein Fremder, er stellt sich vor! Warum soll ich mich nun meinen Freunden entziehen, um mich ganz fremden Männern zu widmen! Gewiß, sie wollen mir eine Ehre erweisen, aber warum sollen in solchen Dingen lediglich die Wünsche der Herren, und nicht auch die der Damen Geltung haben? Ich gebe es zu, daß dies System des Selbstvorstellens im Allgemeinen sehr zweckmäßig sein kann, daß die Dame in tausend Fällen vielleicht nur zu froh ist, daß der Fremde gekommen ist. Sie mag auch mit ihm tanzen, warum nicht? Aber was ich ganz und gar nicht verstehen kann, ist, daß, wenn sie es nicht thut, wenn ihre Freunde ihr genügen und sie sich, dem Fremden gegenüber, noch so freundlich entschuldigt, sie nach Ansicht Mancher nun den ganzen Abend überhaupt nicht mehr tanzen soll. Das ist bezeichnend für die Stellung der Frau in Deutschland. Der deutsche Pascha – gleichviel wer er ist – wirst sein Tuch, und die deutsche Frau muß tanzen.« – Die transatlantische Miß scheint[188] ihre Beobachtungen nicht gerade an den Damen unserer vornehmsten deutschen Gesellschaftskreise gemacht zu haben, denn diese werden sich nicht geniren, in solchen Fällen einen Fremden – allerdings in höflicher Weise – abzuweisen und trotzdem ohne Gewissensbisse mit ihren speziellen Bekannten weiter tanzen. Ablehnende Worte einer Dame, wie: »Ich danke Ihnen sehr, aber ich soll oder möchte nicht zu viel, und deshalb nur mit näheren Bekannten tanzen,« sollten für einen Fremden nicht als verletzend gelten.

Ein allzu zart besaiteter, empfindsamer Herr, der die Ablehnung eines Tanzes seitens einer Dame nicht vertragen kann, darf eben nur Damen engagiren, von denen er sicher annehmen darf, daß sie gern mit ihm tanzen. Besonders vielbegehrte Salonlöwen werden vielleicht in ihrem selbstbewußten Innern sogar die Dame bemitleiden, welche die Gelegenheit, mit ihnen zu tanzen, nicht wahrnahm; das ist ja etwas zu viel Stolz, aber so viel Stolz soll Jeder haben, um sich nicht gleich sterblich blamirt zu fühlen wenn eine Dame es ablehnt, mit ihm zu tanzen.

Eine kleine Unsitte oder Ungewandtheit beim Rundtanzen möchte ich anführen, nämlich sich direkt unter dem Kronleuchter zu produziren;[189] es erregt dies leicht den Verdacht der Eitelkeit, wenn auch manches Tänzerpaar ganz unabsichtlich unter dem Kronleuchter gelandet ist und nun dessen Leuchtkreise nicht so bald zu entweichen vermag, wie ein Insekt, das sich in das Innere der Glocke einer brennenden Lampe verirrt und nicht wieder herausfindet.

Vielleicht ist es jetzt anders geworden, – früher wurde in der Tanzstunde im Allgemeinen eine andere Art zu tanzen gelehrt, als dies in vornehmen Kreisen Sitte war. Sich möglichst auf den Fußspitzen langsam und bedächtig herumzudrehen, wurde als ein Zeichen von Grazie im Tanzunterricht anempfohlen, während auf Tanzfesten die vornehme Welt flott tanzte und mehr in einem gleitenden Tanzen und Wiegen in den Hüften sich bemühte, Grazie zu zeigen. Noch größer ist bei den sogenannten Tourentänzen der Unterschied in der Tanzweise, wie sie im Unterricht gewöhnlich gelehrt wird, und wie dann thatsächlich in der Gesellschaft getanzt wird. Die beiden gebräuchlichsten Tourentänze sind Française und Quadrille, auch Contre und Lancier genannt. Lancier ist in Süddeutschland der üblichere Ausdruck und gilt bei uns im Allgemeinen als der »schnoblere«.[190] Diese Tänze bestehen bekanntlich aus mehreren Touren, bei denen man in der Tanzstunde auf die verschiedenartigsten »Pas« oder Tanzschritte eingedrillt wird. Auf unseren Tanzfesten aber bewegt man sich bei den einzelnen Touren dieser Tänze in der Hauptsache mit gleitenden Schritten unter einzelnen Variationen hin und her und macht wiederholentlich an richtiger oder falscher Stelle grandezza-artige oder ungeschickte Verbeugungen. Tanzstundenartiges Gebahren, geziertes, abgezirkeltes Einherhüpfen auf den Fußspitzen, sieht man sogar vielfach als vorsündflutlich und spießbürgerlich an. Die Hauptsache ist, daß man etwaige Fehler bei diesen Tanztouren mit souverän-selbstbewußter Miene begeht und nicht verlegen hin- und herzappelt. Durch ein blasirtes Gesicht ist man besonders befähigt, seine Gleichgültigkeit gegen jedes Tanzreglement zum Ausdruck zu bringen. Da man bei diesen Tänzen naturgemäß mehr als bei den Rundtänzen Ballunterhaltungsstoff braucht, so sind zu dem Zweck die eigenen oder fremden Fehler besonders willkommen, wenn man die usuellen Themata, wie einheimische und fremdländische Käsesorten und dergleichen, bereits absolvirt hat. Bei der Quadrille oder vielmehr[191] – der vornehmere Ausdruck kostet ja nichts – bei dem Lancier sind die vier Paare eines jeden Carrés als erstes, zweites usw. Paar einzuteilen. Befindet sich nun unter den vier Paaren eine Dame, die vor den anderen als gesellschaftlich bevorzugt gilt, z.B. eine junge Frau neben drei jungen Fräuleins, so haben diese Dame und ihr Herr als erstes Paar zu funktioniren. Die einzelnen Touren dieser Tänze werden häufig kommandirt, und zwar bekanntlich französisch durch den Vortänzer oder einen anderen Herrn – wenigstens soll es stets französisch sein, was da manchmal von dem betreffenden uniformirten oder befrackten Biedermann mit dem unleugbaren Accent seiner deutschen Heimatsprovinz herausgeschrien wird. So einfach auch die in der Gesellschaft übliche Bewegungsart bei diesen Tourentänzen ist, so kann man doch auch hierbei natürliche Grazie und Chic entfalten und sich andererseits auch herzlich unbeholfen gebärden. Mokante Zuschauer werden durch eckige Tanzbewegungen dann besonders gereizt, wenn diese mit geziertem und manirirtem Wesen verbunden sind. Der Vortänzer gilt als Höchstkommandirender für die Tanzenden. Es ist üblich, daß er zum[192] ersten Tanz oder zum Kotillon oder zu beiden Tänzen die älteste noch tanzfähige unverheiratete Tochter der Gastgeber oder diejenige Dame engagirt, die besonders geehrt werden soll. Maßgebend hierfür ist gewöhnlich die soziale Stellung des zugehörigen Papas oder natürlich auch ein von den Gastgebern oder deren Töchtern geäußerter Wunsch. Zu Vortänzern oder Tanzordnern eignen sich am besten in der betreffenden Gesellschaft bekannte oder besonders angesehene Herren von höflichem, aber dabei bestimmtem und ruhigem Wesen. Es macht einen unvornehmen Eindruck, wenn der Tanzordner durch beständiges lautes Parliren, durch eine erkünstelte übereifrige Geschäftigkeit die Wichtigkeit und Würde seines hohen Amtes darzulegen sucht. Bekanntlich fällt man im Allgemeinen am angenehmsten auf, wenn man garnicht auffällt. Der Tanzordner stellt die Tänzer den Damen vor und richtet sein Augenmerk besonders darauf, daß die tanzlustigen Damen auch engagirt werden. Die unverheirateten Damen sind in erster Linie – also vor den jungen Frauen – mit Tänzern zu versorgen. Einer Aufforderung des Tanzordners oder irgend einer anderen Mittelsperson, mit[193] dieser oder jener Dame, die zu wenig engagirt wird, zu tanzen – einer solchen Aufforderung wird der überhaupt noch tanzende Gentleman stets Folge leisten. Vor Allem wird der Tanzordner beim Kotillon oder Blumenwalzer auf kleineren Tanzgesellschaften darauf hinwirken, daß möglichst jede tanzlustige Dame wenigstens ein Bouquet erhält, indem er eventuell den leer ausgegangenen Damen selbst Bouquets überbringt oder andere Herren hierzu animirt. Auch die Damen des Hauses müssen sich hierfür interessiren und nötigenfalls die Herren Tänzer auf diese oder jene, bisher nicht mit einem Bouquet bedachte Dame aufmerksam machen. Uebrigens Achtung! oder – auf Deutsch? – attention messieurs! Das »attention« bitte möglichst nasal und die einzelnen Silben abgehackt auszusprechen, at-ten-tion! Manche bouquetsammelwütige Dame hat bereits eine stattliche Anzahl solcher Trophäen hinter ihrem Platz versteckt und versteht es mit ihren leeren Händen tückischerweise sich den Anschein einer noch Unbeschenkten zu geben. Der Tanzordner wird während der ganzen Tanzerei nächst den Wünschen der Veranstalter des Festes denjenigen der Majorität, und zwar ritterlicherweise[194] der Majorität der Damen, zu entsprechen suchen, er wird bei den verschiedenartigen, oft gerade entgegengesetzten Wunschesäußerungen stets applanirend zu wirken suchen.

Das Souper oder Abendessen wird auf Tanzfesten entweder zu Beginn des Festes vor dem Tanzen eingenommen oder mitten drinnen in einer hierfür eingelegten Zwischenpause. Letzteres ist eigentlich angebrachter; es ist dann nicht allein eine Stärkung für die nachfolgenden Tanzleistungen, sondern auch eine Belohnung für bereits – mehr oder minder treu und eifrig – geleistete Dienste. Das Abendessen mitten im Feste, in einer längeren Tanzpause, wird gewöhnlich an Büffets eingenommen oder vielmehr von Büffets entnommen. Die Festgenossen nehmen dann meist an verschiedenen Tischen und Tischchen, nicht an längeren Tafeln, Platz und holen sich selbst ihre Leibgerichte heran von dem auf besonderen Tischen ausgebreiteten umfangreichen Stillleben, das für materiell veranlagte Naturen je nach dem Mammon und der Splendidität der Gastgeber eine größere oder geringere Gefahr von Magenverrenkungen bietet. Einigermaßen verringert wird diese Gefahr durch die von edlen Menschenfreunden[195] – allerdings zum Nachteil der Apotheken – erfundene Sitte, daß der Herr sich eine Dame zum Büffet engagirt und durch deren Versorgung mit leiblicher und geistiger Speise selten die nötige Zeit dazu findet, aus den Schranken materieller Mäßigkeit herauszutreten. Seine Dame und zugleich sich selbst flott und gut bei einem solchen Büffet zu bedienen, muß man durch die Praxis und die Beobachtung hierin besonders routinirter Herren erlernen. Zunächst sichert man sich für seine Dame und für seine sogenannte eigene Wenigkeit zwei Plätze am besten an demselben Tische mit näheren Bekannten und tritt sodann die Verproviantirungs-Expedition an das Büffet an, und zwar entweder allein oder mit seiner Dame zugleich. Es macht zwar einen höflicheren Eindruck, wenn die Dame auf ihrem eingenommenen Platz zurückbleibt und vollständig von ihrem Herrn bedient wird, anstatt sich an dem bei großen Festen oft ziemlich lästigen Herandrängen ans Büffet zu beteiligen; trotzdem aber erweist man vielfach nicht nur sich selbst, sondern auch seiner Dame einen Gefallen, wenn man sie an das Büffet heranführt, dort Umschau halten läßt, und ihr dann, was sie[196] wünscht, auf ihren Teller aufthut. Eine Unsitte, die man leider noch viel zu oft beobachten kann, ist es, seinen eigenen oder seiner Dame Teller bis an den Rand zu beladen. Man nimmt nur so viel auf den Teller, als man mit Sicherheit glaubt, aufessen zu können, und versorgt auch seine Dame in diesem Sinne. Wie bei der Thätigkeit des Essens selbst, so achte man auch beim Aufthun der Speisen auf den Teller sorgfältig darauf, daß der lediglich zum Anfassen bestimmte Tellerrand frei bleibt, zumal wenn man noch nicht in Amerika Oberkellner studirt hat und mehrere beladene Teller vom Büffet bis auf seinen Platz zu transportiren hat. Was für den Magen bestimmt ist, und sich bei diesem Transport aufs Parquet, auf die eigene Kleidung oder diejenige der leidenden Mitwelt verirrt, dürfte seinen Zweck gänzlich verfehlt haben. Auch Gläser fülle man nie bis dicht an den Rand voll, selbst wenn man weder an Veitstanz leidet, noch auch an dessen Vetter, dem unseligen Tatterich![197]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 187-198.
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