Neue Krankheit und Transport nach Bresahn

[67] Auf dem Lande im Niedersächsischen ist die Gewohnheit, den Flachs in den Backöfen zu dörren. Da mein Pflegevater dies eben vorhatte, sandte er mich nach meinem Zufluchtsort, um ihn auszukehren. Bei dieser ungewohnten Arbeit hatte ich mich sehr erhitzt und gleich darauf wieder so erkältet, daß ich gefährlich krank wurde, Blut auswarf und sogar rasete. Während die Kindfrau, welcher man meine Kur übertragen hatte, sich noch mit meiner Wiederherstellung beschäftigte, kam mein Vater dazu, welcher über meinen Anblick zurückbebte. Er war gekommen, wegen meiner Konfirmation, welche im nächsten Frühjahr zu Zarrentin geschehen[67] sollte, mit meinen Pflegeeltern nähere Verabredung zu nehmen. Als er mich aber in diesem elenden Zustande fand, beschloß er, mich mit sich zu nehmen und für meine völlige Wiederherstellung selbst zu sorgen. Da meine Pflegeeltern nichts dagegen haben konnten, so machte Bostel selbst einen Wagen zurechte, ließ ihn, der kalten Witterung wegen, mit Betten belegen und, mich hineingehüllt, nach Bresahn fahren, wo ich, meiner unbewußt, ankam.

Die Fahrt dahin hätte sehr unglücklich ablaufen können, da die Pferde, durch lange Ruhe mutwillig gemacht, mit dem Wagen durchgegangen waren. Zum Glück hebt sich der Spundnagel aus, das Hinterteil des Wagens bleibt mit mir auf der Straße liegen; der Fuhrmann fällt vom Pferde und wäre geschleift worden, hätt er nicht den Zügel fahrenlassen. Endlich hatten sich die Pferde in die Stränge verwickelt und von selbst haltgemacht, wodurch man Zeit gewann, alles wieder zusammenzubringen und ans Ziel der Reise zu gelangen.

Während meiner Krankheit zu Bresahn im Jahre 1776 setzte folgendes nächtliche Abenteuer uns in Furcht und Schrecken.

Ich lag in der Wohnstube, hörte gegen Mitternacht plötzlich etwas am Fenster knapern und gleich darauf auch meine Mutter zu meinem Vater sagen: »Mann, die Mäuse zernagen dir die Rindsblasen1!« – »Ei, da soll sie das Wetter kuranzen«, antwortete er, sprang mit einem Satz aus dem Bett und richtete mit seinem Hakenstock einen solchen Prügeltanz unter den Blasen an, daß ich mich, besonders wegen seiner komischen Ausdrücke dabei, kaum enthalten konnte, laut aufzulachen, hätt ich nicht gefürchtet, daß die Exekution von den Blasen auf mich übergehen könnte. – Hierauf überließen wir uns insgesamt wieder dem Schlummer.

Am frühen Morgen ergab sich's aber, daß uns Diebe einen Nachtbesuch hatten abstatten wollen, schon das[68] Fensterblei vom Glase abgelöset und die Scheiben herausgenommen hatten, aber durch den Lärm bei der Blasenprügelei glücklicherweise verscheucht worden waren. Nahe an diesem Fenster war ein Wandschränkchen, worin Geld und Kleinodien verwahrt lagen und auf welche die Diebe vermutlich Spekulation gemacht, wegen des Lärms aber sich mit einer Bibel und einigen Kleinigkeiten, die im Fenster gelegen, begnügt hatten.

Nun wurden Nachtwachen gehalten, aber ganz insgeheim, um kein Aufsehen zu erregen und um die Diebe dreist zu machen. So verstrichen einige Tage, als eines Abends mein kleiner Bruder fast atemlos mit dem Ausrufe in die Stube stürzte: »Diebe, Diebe!« Im Nu sprangen alle Anwesende nach den bereitstehenden Angriffswerkzeugen, nach Mistgabeln, Äxten und dergleichen, dann erst erfolgte die Frage: »Nu, wo denn?« – »Auf dem großen Nußbaum«, war die Antwort, und nun ging es stürmend zur Tür hinaus und nach dem Gartenzaun, in welchem der Nußbaum stand und worauf sich wohl ein Dieb verbergen konnte. Nachdem man denselben von allen Seiten umstellt und den versteckten Dieb wiederholt aufgefordert hatte, sich auf Gnad und Ungnade zu ergeben, da fand sich's, daß der angebliche Dieb ein Eichhörnchen war, welches sich vor meinem laufenden Bruder auf den Baum geflüchtet und in den Blättern geraschelt hatte. – Nun gab es ein lautes allgemeines Gelächter, und mancher äußerte bei der Rückkehr nach dem Hause, welche Wunder von Tapferkeit er hätte tun wollen, wenn wirklich Diebe dagewesen wären.

Während dieser Tragikomödie war, unter andern häuslichen Arbeiten, auch das Tränken der Pferde vergessen worden, welches überdies an einem Knechte war, der eine besondere Scheu vor Dieben zu haben schien. Um sich seine Furcht jedoch nicht merken zu lassen, hatte er die Pferde in der Meinung zum Hofe hinausgetrieben, daß sie nun von selbst zur Tränke und von da nach Hause zurückgehen würden. – Den ersten Teil seiner Vermutung[69] hatten die durstigen, vor Dieben unschüchternen Vierfüßler wirklich erfüllt, den zweiten Teil aber nach ihrer Weisheit dahin abzuändern geruhet, daß sich drei auf dem Rückwege von dem Hauptkorps abgesondert hatten, um nach Herzenslust auf der Wiese zu grasen.

Nachdem der Knecht die übrigen zu Stalle gebracht und einige Zeit vergebens auf die Rückkehr der Fehlenden gewartet hatte, geriet er wirklich auf den Gedanken, daß sie von Dieben aufgefangen worden wären. Deswegen nimmt er seine Zuflucht zu einer Notlüge und sagt, als er aus der Schwemme gekommen wäre, hätten die Pferde plötzlich das Reißaus genommen und der alte Fuchs ihn sogar abgeworfen, indem zwei Kerls ihm mit fürchterlichem Tone zugebrüllt hätten, daß er augenblicklich stille halten solle. – Dabei hatte er jedoch weislich verschwiegen, daß er nur dreizehn Pferde in den Stall gebracht hätte, dreie aber zurückgeblieben wären.

Diese Erzählung verursachte einen neuen Aufstand und eine solche Unruhe unter den Helden, daß keiner, wegen der undurchdringlichen Finsternis, sich ins Feld hinauswagte, sondern alle sich bloß darauf beschränkten, die Nachtwache bis gegen Mitternacht fortzusetzen, wo der Mond aufging und in der Ferne mit einem Male einige Menschengestalten erblicken ließ, welche mit den Köpfen über den Zaun zu sehen schienen. Einer von den wachthabenden Sehern wollte sogar unter diesen Erscheinungen einen Menschenkopf mit einem Federbusche bemerkt haben. »Ja, ja«, sagt einer, »das ist der alte Zigeuner Jakob mit seinen Gesellen.« Was war zu tun? Nach mancherlei Debatten faßte man den heldenmütigen Entschluß, die lauernden Diebe mit Schießgewehr anzugreifen, und einer solle für alle und alle für einen stehn. Gesagt, getan; der mutige Verein eilt nach dem Garten, wo einer die von den früher verscheuchten Dieben verlorne Bibel findet. Als das Korps den vermeinten Dieben auf Schußweite nahe gekommen, wird auf dieselben eine allgemeine Salve gegeben, worauf sie[70] plötzlich hinter dem Zaune verschwinden. Nun eilen die Nachtschützen den Flüchtigen triumphierend nach und finden, zu ihrem Erstaunen, daß es drei in den Hof gehörige Pferde waren, die, weil sie bei ihrer Nachhausekunft die Hoftür verschlossen gefunden, ihre Köpfe vermutlich über den Gartenzaun erhoben hatten, um ihre Rückkehr bemerklich zu machen.

Diese Donquichottiade gab in der Folge Stoff zu mancher Schrauberei, mir aber gewissermaßen meine Gesundheit wieder, und von Diebeseinbrüchen fiel kein Versuch mehr vor.

Die sorgsame Pflege meiner Mutter und der Fortgebrauch der von der Hebamme verordneten Arzneimittel stellten meine Gesundheit endlich wieder her, worauf ich nach Seedorf in die Schule geschickt wurde, da in Bresahn selbst kein Lehrer war.

Der Weg nach Seedorf zu Lande ist drei Stunden weit und wurde mir daher äußerst beschwerlich; wer aber für jede Überfahrt über den Schaalsee acht Schillinge daransetzen wollte, kam um eine Stunde näher dahin. Um mir unnötige Wege zu ersparen, wurde mir jedesmal auf drei Tage Proviant mitgegeben, weshalb ich wöchentlich nur zweimal nach Hause kam. Der einbrechende Winter begünstigte mich, meine Wege dahin und zurück um eine Stunde abkürzen zu können, und gewährte mir zugleich das Vergnügen, mich auf dem Schlitten oder mit Schlittschuhen über den gefrornen Schaalsee zu fahren.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 67-71.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
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