Weiterreise und Abenteuer

[155] Nachdem ich mein Reisebündel geschnürt, das Entbehrliche herausgelassen und meinen Hirschfänger verkauft hatte, nahm ich Abschied von meinen Eltern und trat den Rückweg nach Weimar an. Als ich, um Abschied zu nehmen, auch zu meinem Bruder kam, beredete mich dieser, auf dem Heimwege etwas von meiner Straße abzubeugen, um den Glüsinger Jahrmarkt, bei Sachsen-Lauenburg in der Heide, mit zu besuchen, da eben eine Menge Menschen zu Pferde und zu Wagen dahin strömten. Schon oft hatt ich von dem großen Pferde-, Vieh-, Woll- und Krammarkte daselbst gehört, ihn selbst aber noch nie besucht, deswegen gab ich meinem Bruder endlich nach und fuhr mit ihm und einigen andern dahin. Das war ein Lärm und Leben daselbst, wie auf der besuchtesten Messe. Gaukler, Taschenspieler, Weiskäufer und dergleichen auf allen Seiten. Bald nach unsrer Ankunft hatte eine Rotte Weiskäufer einen Diebstahl verübt, und die Miliz und bestohlnen Handelsleute setzten ihnen nach. Während letztere riefen: »Haltet auf, haltet auf!«, schrien die Räuber dasselbe, wodurch die Miliz irregemacht wurde und nicht wußte, wen sie greifen sollte. Dies verursachte einen allgemeinen Aufstand unter der wogenden Menschenmasse. Eben stand ich an einer Bude, um meine Uhr aufzuziehen, als ich einen Stoß erhielt, daß ich fast zu Boden gefallen wäre. Noch hatt ich meine Uhr in der Hand, da erhielt ich einen zweiten Stoß, und – ehe ich mich von meinem Taumel erholt hatte, husch, da riß mir ein anderer die Uhr aus der Hand und wollte sie schon einem dritten zureichen, als ich ihn daran hinderte und ihm die Uhr wieder entriß. Ich schalt ihn einen Spitzbuben, er wollte sich noch mausig machen und bekam derbe Prügel. Nun aber mußt ich mich aus dem Staube machen. Indem ich erst von meinem Bruder und seiner Gesellschaft Abschied nehmen wollte, stieß ich wieder auf meinen Uhrdieb, der mir[156] drohte und auf mich schimpfte. Mein Bruder nebst zwei Kameraden nahmen sich der Sache an, wurden mit dem Diebe handgemein, darauf von der Wache arretiert und aufs Zollhaus gebracht. Hier führte jedes seine Verteidigungsgründe an; von der Uhr war nicht mehr die Rede, sondern nur davon, wer ausgeschlagen hätte. Und da dieser Vorwurf meinen Bruder traf, so ward er zu einer Geldstrafe von zwei Talern verdammt: das Schlagen auf freier Straße wäre eine Freveltat. Indes, dergleichen Urteile werden anderwärts auch wohl außer Jahrmarktszeiten gefällt! – Mein Bruder mußte seine Strafe erlegen und mutete mir nun zu, ihm einen Taler wiederzuerstatten. Ich wußte wohl, geben war seine Sache nicht, deswegen wies ich ihn zur Entschädigung auf meine zurückgelassenen Sachen an. Daher kam es, daß ich diesmal einen sehr kalten Abschied von ihm nahm und nicht einmal »Stäpsens Hochzeit« mit ansah, welche auf einem Marionettentheater aufgeführt wurde.

Als ich bei Lauenburg mich übersetzen ließ, bekam ich einen Reisegefährten an einem Handwerksburschen, welcher wie ich nach Lüneburg wollte. Da wir in Artlenburg wegen der Musik und des Tanzes nirgends ein ruhiges Wirtshaus fanden, so beschlossen wir, den schönen Abend zu benutzen und noch ein paar Stunden weiterzugehen. Als wir an den Schlagbaum kamen, wo ich den Louisdor hatte wechseln müssen, forderte der Zolleinnehmer abermals jedem einen Schilling Passagegeld ab, das ich ihm aber diesmal bloß unter der Bedingung zu entrichten mich bereit erklärte, daß er mir dagegen einen gedruckten Schein ausstellte. Dies weigerte er sich aber, und also gingen wir weiter bis in den Krug, um darin zu übernachten. Eben saßen wir bei unserm Nachtessen, als zwei Männer mit Gewehr und der Zolleinnehmer mit einem Spieße bewaffnet eintraten und mit der Erklärung auf uns loskamen, daß sie uns arretieren wollten. »Mit welchem Rechte können Sie das?« frug ich, indem ich aufstand. »Wenn es Schuldigkeit ist, Brückenzoll oder[157] Dammgeld zu entrichten, so müssen Sie uns darüber einen Tarif oder ein Mandat vorzeigen können, wovon ich im Vorbeigehen nichts gesehen habe. Haben Sie das Recht, jedem von uns einen Schilling abzufordern, so müssen Sie auch jedem einen gedruckten Schein über die Bezahlung ausstellen können, sonst kommen Sie in den Verdacht, die Reisenden willkürlich prellen zu wollen.« – »Der Herr hat recht«, sagte der Wirt, »ein reisender Handwerksbursch oder Bedienter bezahlt hier keinen Brückenzoll.«

Diesmal war unsre standhafte Weigerung von Nutzen, der Zolleinnehmer machte links um, seine Begleiter folgten ihm, und somit war die Sache abgetan. Da wir indes nicht wissen konnten, was der Zolleinnehmer noch gegen uns unternehmen möchte, so beschlossen wir, noch eine halbe Stunde weiter bis nach Kloster Lüne zu wandern, wo, in Ermangelung eines Wirtshauses, der Bauernvogt uns Herberge geben mußte. Die Bauersleute waren noch auf und bewillkommten uns der Reihe nach mit dem in diesen Gegenden noch gewöhnlichen altdeutschen Handschlage.

In diesem Hause hatte sich auch ein Zigeuner mit seiner Familie, der ebenfalls den Glüsinger Markt besucht hatte, einquartiert, etwas zu tief ins Branntweinglas geguckt und schimpfte wie ein Rohrsperling auf den Amtmann, der ihn hätte ausprügeln lassen. Wir hatten uns bald auf die Streue gelegt und suchten nach starker Tagreise zu schlafen, wozu es aber dieser lärmende Trunkenbold schlechterdings nicht kommen ließ. Endlich ging mir die Geduld aus, und ich erinnerte ihn, sich ruhig zu verhalten, da es Schlafenszeit wäre und wir ruhen wollten. Da hatt ich es bei ihm getroffen. »Himmeltausendsackerment, Kerl«, rief er, »was willst du mir? Einen Dreck hast du mir zu befehlen! Ich habe Geld, nicht wahr, Bauernvogt? Noch ein Gläschen!« – Mit einem Schluck war es hinunter, als er es erhalten hatte, und sein Spektakel und Schelten gegen mich nahm in solchem[158] Grade zu, daß wir es nicht mehr aushalten konnten, sondern ihm das Fell derb ausgerbten und ihn dann auf die Tenne oder Hausflur hinauswarfen, wo seine Familie schon ruhete. Hierdurch war das ganze Haus in Alarm gekommen und an keine Ruhe mehr zu denken. Der Wirt wollte mir die Schuld beimessen, ich bewies ihm aber, daß er selbst die Veranlassung zum Lärm gegeben habe, weil er diesem Menschen – obrigkeitlichen Befehlen entgegen – nicht nur Quartier, sondern ihm auch, ob er gleich schon betrunken gewesen, immer mehr hitzige Getränke gegeben und ihn nicht zur Ruhe verwiesen hätte.

Der Tag brach an; der Zigeuner schimpfte und schmähte noch immer und veranlaßte sein Weib, sich anzukleiden, um in den Gerichten Klage gegen uns zu erheben. Dies bewog uns, nach eingenommenem Frühstück uns auf den Weg zu machen, um Weitläuftigkeiten zu entgehen.

Da ich in Lüneburg, wohin mein Reisegefährte wollte, nichts zu suchen hatte, so nahm ich Abschied von ihm und ging über Ebstorf und Schaafstall nach Celle, wo ich einige Tage verweilte und meine alten Bekannten besuchte. Niemand nahm an meinem Schicksal wärmern Anteil als die Frau Kommissärin Cramer, welche mich beim Abschiede mit einem ansehnlichen Geschenke zur Reise erfreute, weil sich's nicht machen ließ, daß ich dableiben konnte.

Glücklicherweise bot sich mir eine Gelegenheitsfuhre nach Hannover dar, die ich bis Langenhagen benutzte, dann aber verließ und den Weg nach Großen-Munzel nahm, wo seit meiner Abwesenheit mancherlei Veränderungen vorgegangen waren: das königliche Reithaus war abgebrannt, und der Stab lag jetzt in Wunstorf, wie mir der ehrliche Schmied erzählte, von dem ich vor vier Jahren den Baumstamm zu Brennholz für meinen Herrn erhandelt hatte. Dieser wackere Mann bot mir den gastfreundschaftlichsten Willkommen und ließ auftragen, was Küch und Keller vermochte. Wie freute sich die[159] gute Seele, als er mir erzählte, daß sein Sohn auf der Violine, worauf ich ihm die Anfangsgründe gelehrt hatte, ein wahrer Virtuose geworden wäre! Nach Tische wurde noch eine Violine herbeigeholt, um demselben zu akkompagnieren: »Gott grüß Euch, Alter, schmeckt das Pfeifchen«, worüber der Alte sich so entzückte, daß er für Wonne sich ein Räuschchen trank, welches, wie ich erfuhr, jetzt bei ihm zur Tagesordnung gehörte.

Den andern Morgen verließ ich ihn, von seinen guten Wünschen begleitet, und wanderte über Herrenhausen nach Hannover, wo ich am Kalenberger Tore haltmachte, um zu überlegen, ob ich über Göttingen oder Einbeck gehen solle. Ersteres schien mir nicht ratsam, weil, wenn die Frau Wirtin sich aus dem Nachlaß des Herrn Grafen M ... si nicht bezahlt gemacht hatte, ich ihr die mir vorgestreckten zwei Louisdor hätte wiedergeben müssen.

Indem ich noch darüber nachdachte, kam ein junger Mensch mit starken Schritten auf mich los und frug, ob dieses der rechte Weg nach Duderstadt sei. Ich bejahete es, bemerkte aber zugleich, daß es bis dahin noch weit wäre. »Das hilft nichts«, erwiderte er, »ich muß hin, wenn ich mein Felleisen nicht verlieren will, das ich in Hamburg einem Fuhrmann aus Bernshausen mitgegeben habe, von dem ich aber abgekommen bin, während ich im Vorbeigehen angesprochen hatte.«

Als er so mit mir sprach, kam mir es vor, als ob ich ihn schon wo gesehen hätte. Ich teilte ihm meine Bemerkung mit und erfuhr, daß er als Schlossergesell in Hamburg gearbeitet hätte, von Zarrentin aber gebürtig sei. Bei dem Namen Zarrentin fiel mir meine erste Jugendreise wieder ein. Ich sagte ihm, daß ich seinen Geburtsort sehr gut kenne; er freute sich darüber, nannte mir seinen Namen, und bald ergab sich's, daß wir Schulkameraden gewesen waren und ich seinen Vater recht gut gekannt hatte. Er bat mich darauf, daß ich doch mit ihm gehen möchte; er wolle mir nicht nur die Zehrungskosten bezahlen,[160] sondern noch überdies ein Geschenk machen. Um das Vergnügen zu haben, mich über seine Vaterstadt etc. noch mit ihm zu unterhalten, ließ ich mich dazu bereden. Wollten wir die Fuhrleute einholen, so mußten wir die ganze Nacht hindurch marschieren. Wir taten es und kamen schon gegen Mittag des andern Tages nach Duderstadt, von wo die Fuhrleute früh um drei Uhr, und zwar nach Mühlhausen, abgefahren waren. Nach eingenommener Erfrischung setzten wir daher ungesäumt unsern Weg dahin fort. Eben hatten wir gegen Abend die Stadt Worbis hinterm Rücken und wanderten auf einem Fußsteige quer durch das Feld, als wir auf eine Erbsengebreite stießen, auf der wir, um unsern Durst zu stillen, einige Schoten pflückten. Kaum hatten wir den Fuß aus dem Acker gesetzt, als von beiden Seiten ein mit einem furchtbaren Prügel bewaffneter Bauer uns den Weg vertrat und, ohne lange zu fragen, auf uns losschlug. Der Schlosser, ein handfester Kerl, ergriff darauf den einen und warf ihn zu Boden, indem rief der andere: »Wißt ihr nicht, daß das Schotenabreißen verboten ist, seht ihr nicht die Warnung, den Wisch«, und führte einen Hieb nach mir, den ich glücklich ableitete, weshalb er von mir abließ und gleichfalls den Schlosser anfiel. Dadurch wurden wir so in Wut gesetzt, daß wir sie mit Steinwürfen verfolgten. Der Schlosser blutete, konnte seiner Wut nicht steuern und lief ihnen nach: aber die Bauern, welche gefunden hatten, daß wir ihnen an Stärke überlegen waren, ergriffen das Hasenpanier und überließen uns das Schlachtfeld, worauf wir ungehindert weitergingen. Um Mitternacht trafen wir zu Mühlhausen ein und wählten den Gasthof zum Nachtquartier, wo die meisten Fuhrwagen hielten. Beim Eintritt hatten wir die Freude, den fraglichen Fuhrmann auf der Streu schlafend anzutreffen. Frohen Mutes leerten wir noch eine Flasche Bier und legten uns dann gleichfalls zum Schlafen auf die Streu.

Gegen zwei Uhr des Morgens waren die Fuhrleute schon[161] munter, um ihre Pferde zu füttern. Eben erwachten wir, als sie sich zum Frühstück setzten. Auf den ersten Blick erkannte der Fuhrmann den Schlossergesellen und sagte ihm, daß er sein Felleisen zu Hannover im »Schwarzen Bär« zurückgelassen habe, bis wohin er das Felleisen ihm verdungen hätte.

Was war hier zu tun? Der Bursch mußte entweder dahin zurückreisen oder suchen, sein Felleisen durch eine andere Gelegenheit zu bekommen. Er kam daher mit dem Fuhrmanne dahin überein, daß er ihm dasselbe in vierzehn Tagen mit nach Mühlhausen bringen solle. So waren wir also doch gerade noch zu rechter Zeit angekommen; vier Stunden später wären die Fuhrleute abermals fort gewesen, und der Schlosser war um sein Felleisen, denn er wußte den Namen des Fuhrmanns ebensowenig anzugeben wie ich den Schiffer von Stade. Der Schlosser erhielt in Mühlhausen Arbeit und nötigte mich durchaus, von ihm zwei neue Zweidrittelstücke anzunehmen. Kurz, wir trennten uns als neue Freunde, und ich wanderte getrost über Langensalza meiner Heimat zu, mit dem Entschluß, lieber zu tagelöhnern und bei Weib und Kind zu leben, als länger aufs ungewisse in der Welt herumzulaufen. Ich trat in Erfurt bei einem Bekannten ab und erfuhr, daß in der Statthalterei eine Bedientenstelle offen sei. Ich erhielt ein Empfehlungsschreiben von Herrn Doktor N ..., aber ich war nicht katholischer Religion, und sonach erhielt ich auch den Dienst nicht.

Die Freude des Wiedersehens, als ich zu meiner Frau kam, war von beiden Seiten groß, aber noch war keine Aussicht da, mich mit Weib und Kind hinlänglich zu ernähren. Doch das machte sich schnell.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 155-162.
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