Reise zu Wasser

[166] Den folgenden Tag, als mein Herr seine Geschäfte abgemacht hatte und alles zur Abreise fertig war, gingen wir auf dem stark besetzten Marktschiffe nach Mainz ab. Das schöne Wetter und die herrliche Musik, welche[166] ein Musikantenkorps zur Erheiterung der Gesellschaft machte, stimmte uns zur ungetrübtesten Heiterkeit. Bei Höchst wurde angehalten und, nachdem wir ein Glas guten Wein getrunken hatten, weitergeschifft. Bald wurde das allgemeine Vergnügen auf einige Minuten durch einen Unbesonnenen oder Betrunkenen unterbrochen, der in den Main fiel, aber glücklicherweise noch gerettet wurde.

Als wir vor Mainz anlangten, lagen schon eine Menge Kutter und Schiffe in Bereitschaft, weiterzugehen. Wir bestiegen, von Musik begrüßt, welche zwei junge Herren bei sich hatten, ein nach Koblenz gehendes Schiff, welches mit günstigem Winde nach Bingen absegelte, wo wir gegen Abend ankamen und, um im Wirtshause zu übernachten, ohne unser Gepäck mit vom Schiffe zu nehmen, ans Land gingen.

Da die Zahl der Einkehrenden stärker als die der Betten war, so ließ ich mir vom Kellner eine Schlafstelle anweisen und bat ihn, mich mit Anbruch des Tages, ehe das Schiff wieder unter Segel ging, zu wecken. Er versprach es, und so legt ich mich sorglos nieder, weil ich sehr schläfrig und müde war.

Der frühe Aufbruch und die Menge der zu bedienenden Gesellschaft hatte den Kellner nicht an mich denken lassen, und so war man schon wieder zu Schiffe gegangen, als mein Herr mich vermißte und nach mir Umfrage hielt. Niemand konnte ihm Auskunft geben, nur einer behauptete, mich am Rheine gesehen zu haben, worauf mein Herr aus vollem Halse mich bei meinem Namen rief, worüber ich erwachte. Ich tummelte mich, soviel ich konnte, da der Schiffer aber auf einen einzelnen Menschen nicht hatte warten wollen, so sah ich das Schiff absegeln, ehe ich fertig war. Vergebens eilt ich, ihm nachzukommen, es flog dem Binger Loche und dem in der Mitte des Rheins stehenden Mäuseturme vorüber, und mir blieb nichts als das traurige Nachsehen. Zum Glück erblickt ich einen Fischer, rief ihm zu und bat[167] ihn, mich in seinem Kahne dem soeben vorbeigefahrnen Schiffe nachzufahren, und wurde von ihm erhört. Er ruderte aus allen Kräften, aber es war ihm unmöglich, es einzuholen, und überdies weigerte er sich, der Zollabgaben wegen, mich über die Grenze zu fahren, an der ein andrer Fischer hielt, welcher mich aufnahm und glücklich bis Sanct Weer brachte, wo das Schiff glücklicherweise noch hielt, um den Zoll zu berichtigen.

Kaum war ich am Borde des Schiffes, so fiel ich in Ohnmacht, weil ich nüchtern mich so stark angegriffen und erhitzt hatte. Mein Herr reichte mir daher ein Glas guten Wein und etwas Brot und hatte die Freude, mich bald wieder zu mir selbst kommen zu sehen. Er war meinetwegen in großer Unruhe gewesen und hatte gefürchtet, ich möchte ein Unglück genommen haben.

Wir kamen glücklich nach Koblenz, wohin ich hätte zu Fuße wandern müssen, wenn die Fischer sich nicht meiner erbarmt und mich dem Schiffe nachgefahren hätten. Da wir einen Tag in Koblenz anhielten, so benützten wir die Zeit, die schönen Umgebungen in Augenschein zu nehmen, ließen uns über den Rhein setzen, bestiegen die Festung Ehrenbreitstein und die Emser Berge und kehrten erst gegen Abend zurück, um dem Schauspiel beizuwohnen, welches mir durch den Verlust meines Hutes im Andenken geblieben ist.

Am folgenden Morgen setzten wir unsre Fahrt über Neuwied und Bonn nach Köln fort, wo die Gesellschaft sich einen Tag verweilen mußte, um ein anderes Schiff zu mieten und das Angenehme der Rheinschiffahrt bis nach Nimwegen zu genießen.

Auf Anraten des Schiffers, welcher ein verdecktes Boot zu haben vorgab, mußte die Gesellschaft sich verproviantieren, als ob wir die weiteste Seereise vorhätten, als wir aber an den Rhein kamen, fanden wir nur einen mit Leinwand überzogenen und mit Bänken versehenen Nachen, welchen, wie wir späterhin erfuhren, der Schiffer unterhalb Köln heimlich entführt hatte.[168]

Da dieser Nachen eine Viertelstunde weit von der Stadt lag und die Gesellschaft sich nicht länger verweilen wollte, so nahm sie vorlieb und Platz darin.

Unterweges hatten wir verschiedene Unannehmlichkeiten, weil der Schiffer absichtlich die preußischen Zölle verfahren hatte; deswegen mußten wir auch auf der andern Rheinseite unweit Emmerich landen und die Nacht daselbst in einem Bauernhofe abwarten, der Schiffer aber verbarg sich indes mit seinem Nachen, dem er das Verdeck abgenommen hatte, im Schilfe und Gebüsche.

Kaum waren wir im Bauernhofe angekommen, als zwei Männer von Wesel eintraten und sich nach dem Schiffer erkundigten, welcher uns auf diesen Fall schon gehörig vorbereitet hatte. Sie taten verschiedene Fragen an uns und gingen, da wir ihnen keine Auskunft gaben, wieder ihre Straße.

Der Schiffer, der sie beobachtet und ihre Rückfahrt gesehen hatte, kam darauf zu uns und dankte uns, daß wir ihn aus einer großen Verlegenheit befreit hätten, jetzt habe er nichts mehr zu fürchten, und gegen Abend würde er wieder abfahren.

Um das schöne Wetter zu genießen und zugleich uns im Freien auszuruhen, legten wir uns nach eingenommener Mahlzeit auf den Hof und schliefen daselbst bis gegen Abend.

Für meinen Herrn war dies eine kostbare Schlafstelle geworden, da er, wie sich's in der Folge auswies, daselbst seinen Geldbeutel mit vierzig Dukaten hatte liegenlassen.

Bei Einbruch der Nacht bestiegen wir ganz still wieder unsern Nachen und fuhren ab. Unbesonnenerweise ließ ihn der Schiffer zu weit auf die Seite treiben, wodurch wir bei Emmerich in einen Strudel gerieten, der uns unfehlbar in den Abgrund gezogen haben würde, wenn Gott und Angst unsre angestrengte Arbeit nicht unterstützt und uns gerettet hätte.

»Jesus Maria, hilf, Mutter Gottes«, schrie auf einmal der[169] Schiffer und einige andere Anwesende, als sich plötzlich im Wasser ein polterndes Geräusch erhob, als ob der Nachen über Klippen rollte. Andere fielen auf die Knie und beteten flehentlich: »Maria, Mutter Gottes! heiliger Joseph! bitte für uns, jetzt und in der Stunde unserer Gefahr!« – Diese Seufzer wurden von sämtlichen anwesenden Katholiken stehend und kniend wiederholt, daß wir im ersten Augenblick für Bestürzung selbst nicht wußten, was wir tun sollten; bald aber ermannten wir uns und riefen den Andächtigen zu, daß es mit dem Schreien und Beten nicht getan wäre, sondern daß wir sämtlich Hand anlegen und suchen müßten, durch angestrengtes Rudern den Nachen aus der gefährlichen Stelle herauszubringen. Jetzt legte alles Hand ans Werk und half mit Händen und Füßen rudern, wodurch wir uns endlich dem gewissen Untergang entzogen und mit Tagesanbruch glücklich vor Nimwegen landen konnten. Hier kehrten wir ein, frühstückten und bezahlten den Schiffer, welcher ohne Zeitverlust seinen Nachen verkaufte und sich mit dem Erlös aus dem Staube machte.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 166-170.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
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