I. Wunder betreffend
(Oktober 1900)

[203] Die gegen mich gerichteten Wunder nehmen selbstverständlich unausgesetzt ihren Fortgang. Dabei tritt aus den bereits früher mehrfach erwähnten Gründen je länger je mehr der Charakter eines verhältnißmäßig harmlosen Schabernacks in den Vordergrund. Ein kleines Beispiel möge als Beleg dienen.

Am 5. Oktober 1900 wird mir beim Rasiren vom Barbier, wie auch schon früher wiederholt geschehen, eine kleine Schnittwunde beigebracht. Bei dem darauffolgenden Spaziergange im Garten begrüße ich den Reg.-Assessor M.; dieser faßt sofort nach der Begrüßung die an sich gar nicht auffällige, mit einem Stückchen Schwamm etwa folgender Größe Û bedeckte Schnittwunde ins Auge und fragt nach der Veranlassung, die ich dann wahrheitsgemäß dahin angebe, daß der Barbier mich geschnitten habe.

Der kleine Vorgang ist für mich, der ich den tieferen Zusammenhang kenne, äußerst ineressant und lehrreich. Die Schnittwunde war, wie mir nach zahlreichen ähnlichen Erscheinungen ganz unzweifelhaft ist, die Folge eines göttlichen Wunders und zwar eines vom oberen Gotte ausgehenden. Dieser hatte, einer »Störung« in dem früher mehrfach besprochenen Sinne bedürftig, der Hand des Barbiers durch entsprechende Einwirkung auf dessen Muskeln eine hastige Bewegung gegeben, durch welche die Schnittwunde entstanden war.

Daß Reg.-Assessor M. dann sofort auf diese kleine Wunde zu sprechen kam, beruht darauf, daß Gott (unter den mir gegenüber eingetretenen weltordnungswidrigen Verhältnissen) die Folgen an mir geübter Wunder mit Vorliebe zum Gegenstand einer Unterhaltung machen läßt; die den Strahlen eigenthümliche Eitelkeit fühlt sich dadurch geschmeichelt1. Die Einwirkung durch Wunder auf Reg.-Assessor M. ist dabei augenscheinlich eine doppelte gewesen, einmal auf seine Augenmuskeln, sodaß er die Wunde und das Stückchen Schwamm über meinen Lippen überhaupt bemerkte, und sodann auf seine Nerven (seinen Willen), daß er daraus den Anlaß zu einer Frage nach dem Grunde der Verletzung entnahm. Die Frage selbst wurde etwa mit den Worten: »Was haben Sie denn da am Munde?« an mich gestellt.[203]

Aehnliche Beobachtungen habe ich in unzähligen Fällen in Betreff allerhand kleiner Unsauberkeiten gemacht, die während des Essens bei mir entweder am Munde oder an der Hand oder auch an Tischtuch und Serviette gewundert werden. Ganz besonders häufig geschieht dies namentlich auch bei Besuchen meiner Frau und meiner Schwester, wenn ich z.B. in deren Gegenwart den Cacao einnehme. Cacaoflecke werden dann durch Wunder auf meinen Mund, meine Hand, mein Tischtuch oder meine Serviette geschmiert, und meine Frau oder Schwester verfehlen dann nicht ganz regelmäßig, die betreffenden Unsauberkeiten zum Gegenstand einer natürlich im Tone eines gelinden Vorwurfs gehaltenen Bemerkung zu machen.

Erfahrungen ähnlicher Art mache ich auch häufig an der Tafel des Anstaltsvorstandes oder bei anderen Anlässen. Wiederholt sind an den ersteren, wenn ich an den Mahlzeiten Theil nahm, Teller ohne irgendwelche unsanftere Berührung mitten entzwei gebrochen oder es wurden irgendwelche Gegenstände, die die bedienenden Personen, andere Anwesende oder ich selbst in Händen habe (z.B. eine meiner Schachfiguren, mein Federhalter, meine Zigarrenspitze u.s.w.) plötzlich zu Boden geschleudert, sodaß sie sodann, soweit sie zerbrechlich sind, auf natürlichem Wege entzwei gehen. In allen diesen Fällen handelt es sich um Wunder; die entstandenen Schäden werden deshalb mit Vorliebe, nach Befinden geraume Zeit später, von meiner Umgebung zum Gegenstand einer besondern Unterhaltung gemacht.

1

Eine ganz ähnliche Erscheinung wie beim Menschen. Auch Menschen werden sich regelmäßig angenehm berührt fühlen, wenn irgend ein Erzeugniß ihrer Arbeitsleistung, ihres Fleißes u.s.w. von Anderen der Aufmerksamkeit gewürdigt wird.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 204.
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