Feiertag.

[91] Heute ist Feiertag. Der sogenannte preußische Buß-und Bettag, der von einem gekrönten Haupt der Hohenzollern für das unumgängliche Seelenheil preußischer Staatsangehöriger eingesetzt worden ist.

Der Anstaltsgeistliche hielt seine Predigt nach den Worten Johannes des Täufers: »Tuet Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!« Dieser Asket soll in der Wüste von wildem Honig und Heuschrecken gelebt haben. Ein wunderlicher[91] Gedanke kam mir: »Die Herren christlichen Geistlichen sind doch meist strikte öffentliche Gegner von Darwins Lehre: Der Mensch stammt vom Affen ab! Hier steht in dem Buch der Bücher: Er lebte von Heuschrecken und wildem Honig. Beim Henker, das frißt auch ein Affe!«

Wir armen Menschen, wir, die vom Schicksal am härtesten Geschlagenen, sollten Buße tun. Für was sollten wir Buße tun? Half uns Jemand aus diesen stinkenden Verhältnissen heraus? Hatten wir Hoffnung oder Aussicht, wieder nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden? War ein Recht auf menschenwürdige Arbeit für uns vorhanden, wenn sich nach unserer Entlassung das Tor dieser Anstalt öffnete? Wenn die paar armseligen Groschen, die wir vor unserer Entlassung erhielten, aufgebraucht waren und wir keine Arbeit fanden, dann fielen wir wieder in das Schlammnetz unserer Vergehen, vielleicht auch Verbrechen. Wir wurden wieder bestraft ....

Wie bitter schwer ist es mir geworden! Vom 29. Januar, also meiner Entlassung, bis 14. März 1904 bin ich arbeitslos umhergewandert. In den Fabriken bekam ich höchstens einen Bemühungsschein, aber keine Arbeit.

Ein Heimarbeitsmeister stellte mich aus Mitleid ein. Ich bekam zwölf Mark die Woche und zahlte neun Mark Kost und Logis. Dies war verflucht wenig Lohn. Er lehrte mich das Feilen. Wir produzierten verschiedene Kleinmetallprodukte, wie Korkzieher, Champagnerhähne für Flaschenlimonaden usw.

Es war in der schönsten Gegend des Thüringer Waldes, in meinem Vaterland, in Zella St. Blasii, nicht weit von Gotha. Sieben Wochen hielt ich es aus. Die Arbeitszeit war zu lang und immer feilen dabei, über achtzig Stunden wöchentlich. Am letzten April war Schluß der Arbeit bei mir. Den 1. Mai feierte ich mit Walpurgisnacht in Suhl. Er fiel auf einen Sonntag. – –

Wir also sollten Buße tun, sagte der Anstaltsgeistliche in Großsalze. Für mich war es bitterer Hohn und galliger Spott. An diesem Tage wünschte ich mich weit fort – nur nicht mehr[92] in diesem Hause.., denn meine Ueberzeugung war, daß die gesamte Menschheit mit ihren guten und schlechten Einrichtungen daran schuld sei, daß wir in dieser Anstalt unser Leben verkümmern mußten. War ich es nicht und meine Leidensgefährten, dann waren es andere, aber die bestimmte oder unbestimmte Zahl hätte unsere Plätze ausgefüllt, wenn wir nicht hier waren. Die moderne Technik, die kapitalistische Berechnung stieß durch moderne Maschinen eine schwer berechenbare Unmasse von Menschen aus ihrem Brot und Lohn – und dieser gute Mann predigte von Buße tun. Wir sollten uns also noch bedanken, daß wir von der Landstraße oder aus den christlichen Kaschemmen hier in dieses Deutsch-Sibirien eingeliefert waren. Es war mir zu naiv und ich hielt meine Lachmuskeln fest, um nicht spöttisch aufzulachen, denn dann wäre es mir nicht gut ergangen. Diesen Mann im Talar hätte ich zur Zeit ermorden können –, doch heute nicht, ich habe mich beherrschen gelernt. –

Jede Sache hat ihr Ende, – auch die frommen Zeremonien an diesem Buß- und Bettag.

Meine Leidensgefährten wollten sich vor Lachen ausschütten über die Heuschrecken und den wilden Honig, als wir wieder an unseren Plätzen waren und kritisierten.

Wilhelm, den Schneider, foppte ich: »Geh zum Direktor und sage ihm, Du wolltest Deiner Alten beichten, wegen die junge Trine!«

Er lachte aber bloß. Heucheln konnte er aus dem ff, er nahm das heilige Abendmahl in dieser Anstalt. Dies sind solche Sträflingskniffe, wie sie fromme Gewaltdisziplin in solchen Anstalten erzeugt. Man erreicht durch so etwas mehr, als durch wahre Gesinnung.

In dieser Woche hatten wir zwei Feiertage, den genannten Bußtag und am Sonntag das Totenfest. Die Kirche besuchte ich, weil ich mußte, in der Anstalt fast immer. Einmal entschuldigte ich mich: es war der letzte Ruhetag, den ich in der Anstalt hatte. Dieser Kirchenzwang in Burg Schadeleben widerte mich an. Seit meiner Konfirmation bin ich sehr wenig[93] in der Kirche gewesen. Die freie Natur stimmt mich andächtiger als das feinste Predigtmanna. Auch am Totensonntag war ich da und dachte an die Vergänglichkeit unseres Lebens. Den Tod meiner Mutter hatte ich ja nicht zu beklagen. Zwei meiner Brüder waren im Alter von zwei und sechs Jahren gestorben. Mein Vater war seit 1867 verschollen im großen Erdteil Nordamerika – dem Lande vieler namenloser oder unter falscher Flagge segelnder Menschen. Fluchen wollte ich meinem Vater nicht, aber liebend konnte ich seiner nicht gedenken. Bloß das nackte Leben, mir zu dieser Zeit selbst verhaßt, hatte ich ihm zu verdanken, sonst auch weiter nichts ...

Meine Mutter wußte von mir aus nicht, daß ich im Arbeitshaus war. Ich wollte ihr die Schande zur Zeit ersparen, daß sie einen zum Auswurf der menschlichen Gesellschaft Verworfenen ihr Kind nennen mußte. Unter Grübeln schwanden die Stunden von diesem Sonntag dahin. –

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 91-94.
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