Ingolstadt.

[26] Sie reisten mit der Gesellschaft glücklich ab und kamen zu Ende des November in Ingolstadt an. Da Michelanzky Anstalten zur Einrichtung des Schauspielhauses bereits gemacht hatte, so konnte in wenigen Tagen nach unserer Ankunft das Theater geöffnet werden. Der Tag war da und alles dazu bereit, als den Nachmittag nach 3 Uhr der Graf von Freysing, Statthalter von Ingolstadt, seinen Läufer an meinen Vater schickte, mit dem Befehl, daß er sogleich zu ihm hinkommen möchte. Mein Vater eilte zum Grafen. Er kam ihm im Zimmer entgegen, nahm meinen Vater bei der Hand und sagte: »H.S., ich muß Ihnen etwas Unangenehmes sagen, Sie dürfen heute nicht spielen, diesen ganzen Advent nicht, und können nicht eher anfangen als den zweiten Feiertag.« Die Nachricht erschütterte meinen Vater so sehr, daß er kaum die Frage: »Warum? Ihro Exzellenz?« herausbringen konnte. »Sie dauern mich, aber ich kann's nicht abwenden. Die Jesuiten sind bei mir gewesen, haben so viele Vorstellungen gemacht, daß man an keinem lutherischen und calvinischen Ort im Advent spielen dürfe, wie unschicklich es also wäre, wenn es in katholischen Ländern erlaubt würde. Die Jesuiten haben einen großen Einfluß auf die meisten Leute in der Stadt. Wie leicht, wenn ich's Ihnen nicht zugestanden, konnte es Ihnen in der Folge mehr Schaden tun, als Sie jetzt davon haben könnten, wenn Sie 14 Tage stillliegen. Geben Sie sich also gelassen darein, soll Ihnen schon auf andere Art ersetzt werden.« Mein Vater dankte dem Grafen, bat um seinen Schutz in der Folge und kam zu uns, um solches anzukündigen. Gott, mich dünkt, noch seh ich den guten Alten, wie er zu uns ins Zimmer trat. Eine Träne[26] im Auge, doch voll Sanftmut, voll Gelassenheit und Ergebung. »Zieht euch nur wieder aus, liebe Kinder! Wir dürfen heute nicht spielen.« »Nicht? Nicht? Nicht?« schreien wir alle durcheinander. Es wurde nach allen Häusern von erstem und zweitem Rang in der Stadt herumgeschickt und der Vorfall gemeldet, und so stand einer an der Kasse, der es denen, die in die Komödie kommen wollten, absagte. In Gelassenheit wurde die versagte Zeit abgewartet, und den zweiten Feiertag vor einer sehr zahlreichen Versammlung angefangen.

Den zweiten Tag war's ebenso, so daß mein Vater, als er sein eingenommenes Geld gezählt hatte, sagte: »Wenn's so fortgeht, nur einige Zeit, so hoffe ich, will's Gott, bald aus meinen Schulden zu sein.« Den Morgen darauf schickte der Graf Freysing abermals zu meinem Vater, daß er hinkommen sollte. Er kommt zu ihm, aber wie groß war sein Erstaunen, als ihm der Graf in größtem Ungestüm entgegenkommt, ihm Vorwürfe macht, droht mit Strafe, die Stadt zu verlassen, ohne daß mein Vater die Ursache wußte, warum oder weswegen. Endlich, da der Graf stillgeschwiegen, so sagte mein Vater: »Ich bitte Ihro Exzellenz, so sagen Sie mir doch nur, worin mein Verbrechen besteht! Ich bin mir nichts bewußt, auch von meiner Gesellschaft weiß ich nichts Unrechtes. Was hat man Ihnen gesagt, damit ich mich wenigstens rechtfertigen kann, bevor man mich verdammt!« »Was haben Sie gestern für ein gottloses Stück gegeben, welches zur Verführung junger Leute und zum Aerger der Alten gereicht?« »Ein Stück, das mehr als einmal auf dem Kaiserlichen Theater in Wien ohne Anstand ist gegeben worden.« »Ja, wer weiß, wie Sie es geändert haben. Kurz, wenn Sie nicht auf die Wahl Ihrer Komödien aufmerksamer sind und noch so ein Stück geben, so haben Sie hier ausgespielt, und Sie können machen, daß Sie zum Tor hinauskommen.« So kurz und deutlich der Graf gesprochen, so wenig konnte es meinem Vater behagen, der so eine Begegnung nicht gewöhnet war. Er stand da, stumm und niedergeschlagen. Wenige Zeit darauf kamen die Stabsoffiziere, die den Grafen zu sprechen hatten. Kaum erblickten sie[27] meinen Vater, so gingen sie auf ihn zu: »Ach! Sie hier, guten Morgen, H.S., vielen Dank für den angenehmen Abend, den Sie uns gestern gemacht. Das war ein charmantes Stück. Geben Sie es nur bald wieder! Wir kommen alle, und die es nicht sehen konnten, freuen sich darauf.« »Meine Herren, Sie kommen für mich wie die Schutzengels. Da, Herr Graf, die Aussagen so vieler würdiger Personen sei meine Rechtfertigung!« Der Graf stand voll Erstaunen. Um kurz zu sein, so will ich nur soviel sagen, daß der Graf seinen Läufer zu meiner Mutter schickte mit dem Befehl: das gestern aufgeführte Stück mit den Arien so, wie es gestern gegeben worden, dem Läufer verabfolgen zu lassen. Der Läufer brachte es dem Grafen. Mein Vater las es von Wort zu Wort vor. Der alte Graf lachte, sagte: »Was ist das? Ich finde nichts Unanständiges, und doch sind heute in aller Frühe die Jesuiten bei mir gewesen und haben mich so in Rage deswegen gebracht.« Die Offiziere klärten es auf, daß der alte Oberstleutnant, der erst kurze Zeit mit einer sehr jungen Person verheiratet sei, von einem und dem andern Offizier wäre geneckt worden. Dieser hatte sich nun eingebildet, das Stück wäre ihm zum Possen gegeben worden, lief zu den Jesuiten, und die zum Grafen. Der Graf entschuldigte sich wegen seiner Hitze bei meinem Vater und wollte, daß den andern Tag das Stück wieder sollte gegeben werden, er wollte selbst mit seinen Söhnen hineinkommen. Mein Vater aber sagte: »Verzeihen Sie mir, Herr Graf, wenn ich mir solches verbitte! Zweimal haben mir nun die Herren Jesuiten zu schaden gesucht, ich will sie nicht reizen, mir zum dritten Mal zu schaden. Lassen Sie mich lieber das Stück nie wieder geben! Wollen die Herren nicht meine Freunde sein, nun, so will ich allem ausweichen, daß sie mir nicht noch feinder werden. Nur bitte ich für die Zukunft, daß, wenn wieder Klagen kommen gegen mich, Sie auch mich hören!« Der Graf fand, daß mein Vater recht hätte, versicherte ihn seiner Freundschaft und Schutzes, und so kam der gute Mann, nach einem sehr heißen Morgen, den man ihm gemacht, nach Hause. Alles war nun wieder gut, und wir spielten fort bei immer fortdauernder guter Einnahme. Die Herrschaften sowohl,[28] wie die Bürger besuchten fleißig das Schauspielhaus. Ja, man war uns so günstig, daß, wenn es stark Glatteis war, die Offiziersfrauen auf den Strümpfen in die Komödie gingen, weil sie nicht alle Wagen und Pferde hatten, und wenn sie sich hineinfahren oder tragen ließen, solches ihnen zu teuer gekommen wäre. So günstig war man meinen Eltern.

Hier muß ich einen Vorfall, der mir zustieß, mit einfließen lassen. Es wurde ein Stück gegeben, das hieß »Rodrich und Delmire«. Ich spielte in solchem einen verkleideten Pagen. Meine Rolle brachte es mit sich, daß ich mit bloßem Degen einmal herauskam. Ich stand in der Szene und wartete, bis der Auftritt an mich käme. Es waren einige Burschen auf dem Theater, die mit der Mademoiselle Karoline sprachen. Sie neckten sich mit ihr, und einer von ihnen stieß mich an den Arm; ich versah mich solches nicht, der Degen war schwer, und ich zu schwach, solchen festzuhalten, laß den Arm sinken und stoße mir den Degen durch den Schuh durch in den rechten Fuß zwischen den zweiten und dritten Zehen. Ich fühlte den Schmerz, und das Blut floß aus dem Schuh heraus. Doch alles dessen schwieg ich still, weinte nicht, dachte nur an meine Rolle, die gut zu spielen. Ich wußte zu sehr, daß ich der Liebling meines Vaters war, fürchtete mich, daß, wenn ich's meinem Vater sagte, der etwa die Burschen in der ersten Hitze beleidigen könnte. – Meine Rolle ging gut ab, und ich, als ich nach Hause kam, setzte ich mich unter den Tisch und zog da meine Schuhe und Strümpfe aus. Das Blut hatte sich gestockt, und ich legte mich nieder. Den andern Tag konnte ich nicht auftreten. Um solches zu vermeiden, da ich, ohne zu hinken, nicht gehen konnte, sprang ich, wenn ich ja von einem Ort zum andern hinsollte, immer auf dem linken Fuß. So trieb ich es drei Tage, ohne daß meine Eltern das geringste merkten. Eines Morgens befahl mir meine Mutter, daß ich etwas holen sollte. Ich sprang lustig auf meinem einen Fuß weg. Meine Mutter sagte: »Mädchen, wann wirst du wieder gehen, was soll das Springen?« »Ja, Mama, man muß sich auf alles geschickt machen. Kann ich nicht einen Fuß verlieren? So ist's gut, wenn ich mich geschickt mache, mich mit einem Fuß zu behelfen.« »Da bewahre[29] dich Gott vor. Geh' ordentlich, sonst kannst du aus der Kinderei ernst machen.« Ich war nun zum Zimmer hinaus und stieg mit vielen Schmerzen die eine Stiege hinunter. Wir wohnten zwei Treppen hoch. Unter uns wohnte ein Hauptmann mit seiner Gemahlin, Baron von Wirsching hieß er. Sie hatten ein Gesellschaftsfräulein bei sich, das hieß Fräulein Arbes. Sie hatte mich sehr lieb. Das Fräulein sah mich, als ich so erbärmlich die Treppe herunterkam. »Kind, was fehlt Ihnen?« »O, stille, gnädiges Fräulein, daß es Mama und Papa nicht hört.« Sie nahm mich auf den Arm, ich weinte, und so trug sie mich zu der Hauptmännin ins Zimmer. Ich klagte ihnen mein Unglück, und wie sehr ich wünschte, daß nur meine Eltern nichts davon erführen, wegen dem vielen Verdruß, der daraus entstände, denn Papa wäre sehr heftig. Der Bediente mußte für mich das Gewerbe besorgen und meinen Eltern sagen, daß mich die gnädige Frau den Mittag bei sich zu Tisch behielte. Sie zogen mir den Schuh und Strumpf aus und erschraken nicht wenig, da sie meinen Fuß sahen, der blau und schwarz war. Der Hauptmann schickte sofort nach dem Regimentsfeldscher, der sagte, wofern ich noch 24 Stunden so gegangen, wäre der kalte Brand dagewesen. Aller Ansatz wäre bereits da. Nun wurden alle möglichen Anstalten gemacht. Das Fräulein legte mir alle halbe Stunde frischen Verband auf. Als meine Eltern nach dem Theater gingen, forderte das Fräulein ihnen den Zimmerschlüssel ab, daß, wenn ich müde würde, sie mich zu Bett bringen könnte. Sie taten es auch, und den andern Morgen hüpfte ich wieder wie gewöhnlich, auf meinem Fuß zum Zimmer hinaus. Als sie mich hüpfen hörten, kam der Bediente, trug mich die Treppe hinunter, und nun ging's wieder an frische Umschläge. Das Blaue verlor sich, sowie die Geschwulst. Der Feldscher gab mir Pflaster, und so wurde mein Fuß in Zeit von 14 Tagen ganz geheilt, ohne daß je meine Eltern was gewahr wurden. Nicht gar zu lange vor meiner Mutter Tod zeigte ich ihr die Narbe. Mein Vater aber hatte es nie erfahren. War damals noch nicht sechs Jahre, konnte aber schon leiden und schweigen.

Eines Morgens, als bei meinem Vater eben Probe war,[30] kam H. v. Michelanzky und bat meine Eltern den Mittag zu Tisch und ersuchte, die Mademois. Schädeln mitzubringen. Es geschah. So wurden einigemal meine Eltern mit ihr zu ihm geladen, aber bald darauf sie ganz allein. Meine Eltern gönnten es ihr; denn sie hatten zu Hause genug Geschäfte, die ihnen nicht erlaubten, täglich zu Gaste zu gehen. Aber an Tagen, wo keine Komödie war, ging Mademois. Schädel des Morgens um 9 oder 10 Uhr fort und kam erst in der Nacht um 11, 12 Uhr nach Hause. Als sie zum drittenmal so spät kam – denn sie schlief bei meiner Schwester und mir in einem Alkoven, der in dem Zimmer war, wo meine Eltern schliefen –, so gab ihr mein Vater einen Verweis: »Nicht etwa, meine liebe Schädel, als ob ich dächte, es geschähe was Unrechtes. Nein, Michelanzky hat seine Tochter bei sich. Aber es schickt sich nicht für ein junges Mädchen, daß sie alle Abende hintereinander so spät nach Hause geht. Michelanzky hat keine Frau, warum wollen Sie sich ins Gerede setzen?« usw. Sie schwieg, aber war sie sonst um 11 oder gegen 12 Uhr nach Hause gekommen, so blieb sie nun weg bis gegen 3 Uhr und später. Mein Vater, es überdrüssig, sagte ihr gerade heraus, er litte es nicht länger. »Sie wissen, was ich Ihrem Vater versprochen, und wofern Sie Ihre nächtlichen Besuche nicht einstellen, so berichte ich's Ihren Eltern. In meinem Hause muß Ordnung sein. Sie können des Morgens schlafen, so lange Sie wollen; ich aber und meine Frau, wir arbeiten.« Als mein Vater ausgeredet, fing sie an: »Ach, Herr Schulze, ich will Ihnen nur alles auch richtig gestehen. Der heilige Geist hat mich regiert, und ich bin fest entschlossen, katholisch zu werden. Das ist die Ursache, warum ich so spät des Nachts nach Hause gekommen, weil mich endlich der H. v. Michelanzky überführt, daß ich auf einem Irrweg bin.« »Sie wollen katholisch werden, Sie? Nie haben Sie, solange Sie bei mir sind, den geringsten Trieb dazu geäußert, und seitdem Sie den Umgang mit Michelanzky haben, fühlen Sie sich vom heiligen Geist regiert? Mamsell, spotten Sie nicht! Von einer Religion zur andern übertreten, ist nichts Geringes. Kann kein Werk von acht und vierzehn Tagen sein. Sieben Jahre habe ich mit mir gekämpft. Ich änderte weder aus Ehrsucht,[31] noch Interesse. Bilden Sie sich etwa ein, daß, wenn Sie katholisch werden, Michelanzky Sie heiraten wird? Sie irren sich. Haben Sie Absichten, welche Sie wollen, und es ist nicht wahrer Beruf, so sind Sie wie das Rohr, das der Wind hin und her weht. Prüfen Sie sich bei sich selbst, nicht aber bei einem Wittmann. Untersuchen Sie, wenn Sie die Hoffnung aufgeben, ›gnädige Frau‹ zu heißen, ob der heilige Geist noch immer so stark in Ihnen wirkt!« Mein Vater sagte ihr noch weit mehr, was er für seine Pflicht hielt, ihr zu sagen.

Den andern Tag, kaum, da der Morgen angebrochen, lief sie zu Michelanzky. Sie warf sich ihm zu Füßen, weinte, schrie: »Retten Sie mich aus den Händen von diesen Gottlosen!« (Michelanzky nannte sie damals schon du, aus lauter frommen Handlungen.) »Hast du heute in der Komödie zu tun?« »Ja, Ihro Gnaden, mein gnädiger Herr.« »Gut, sollst heute zum letztenmal spielen, und ziehst zu mir ins Haus; ich werde dich unterrichten lassen, und sobald du dein Glaubensbekenntnis öffentlich abgelegt, will ich für dich weiter sorgen.« Um 10 Uhr kam sie zur Probe. Nach der Probe nahm sie ihr Kästchen mit ihren Sachen und trug es zu Michelanzky. Es kam von ihm eine Magd, daß man der Mamsell ihre Kleider zur Komödie schicken solle, sie würde sie bei H. v. Michelanzky anziehen. Meine Mutter schickte ihr alles. Er brachte sie am Arm geführt ins Theater, legte sein Geld auf die Kasse und sagte zu meiner Mutter, die das Geld annahm: »Heute agiert Mademois. Schädel zum letztenmal mit.« »Sehr wohl,« sagte meine Mutter.

Gott, welch ein Schlag war das für meine Eltern! Nicht deswegen, daß sie nicht mehr mitspielte, aber der Lästerreden wegen. Meine Eltern wurden mit den schwärzesten Namen belegt. Nun bekamen die Jesuiten Wasser auf ihre Mühle. Sie schmähten, schimpften auf den Kanzeln, verfluchten jeden, der in die Komödie ferner ging, bis in den tiefsten Abgrund der Hölle. Bald fühlten meine Eltern den heiligen Eifer. Wenige Bürger und Gemeine blieben uns, nur der Adel besuchte noch das Schauspielhaus. Es war in der Karnevalszeit, und hätte meine Mutter nicht so viele Masken für die Herrschaften zu machen bekommen, so hätte mein Vater keine[32] Gagen an seine Leute geben können. Nun kamen die Fasten. Mein Vater hoffte, es sollte nach Ostern besser gehen. Wir fingen an, und kein Mensch kam. Meine Mutter ging selbst zu den Herrschaften und frug. Die antworteten: »Gern glauben wir, daß Ihnen zuviel geschieht. Sie wissen auch, daß wir uns an das Schmähen auf den Kanzeln nicht gekehrt. Aber die Jesuiten sind fast allein unsere Beichtväter.« Wie wir gebeichtet und mit der Beichte fertig waren, frugen sie uns vor der Absolution. »Gehen Sie auch in die Komödie?« »Ja.« »Wenn das ist, können wir Sie nicht eher absolvieren, bis Sie angeloben, nicht mehr in die Komödie zu gehen.« »Was wollten wir tun? Absolviert müssen wir sein – also wir versprachen es, und können nun nicht eidbrüchig werden.« Meine Eltern hörten also auf, zu spielen.

Mein Vater nahm etwas Geld, reiste fort und suchte anderwärts die Erlaubnis, zu spielen. Bekam sie nirgends, weil er von Ingolstadt kein Attest aufzuweisen hatte. Und hätte er auch einige Male einen Ort gefunden, um zu spielen, so fehlte ihm Geld, seine Gesellschaft kommen zu lassen. Die ganze Gesellschaft wohnte in dem Haus, wo wir wohnten. Sie hatten Essen und Trinken, und um ihnen Taschengeld zu geben, versetzte meine Mutter eins ums andere. Mich, Karl und Marianne erhielt sie mit Händearbeit. Sie wusch, nähte und ernährte sich mit uns mit magerer Kost. Zweimal speisten wir in der Woche warme Suppe und Fleisch; meistens nur Brot, Salz, und Wasser war unser Trank. Doch was wollte das sagen! Aber das Betragen von den Schauspielern, von unserm Wirt und seiner Frau, die immer besoffen waren, sich als Betrüger und dergleichen schelten zu hören, Drohungen von »Haus hinauswerfen.« – – Gott, du weißt es, wie wir oft mit Tränen unser Brot und Wasser verschluckten. Sowie einer und der andere ein neues Engagement bekamen, reisten sie von uns, alle, und meine Schwester lief auch heimlich weg und engagierte sich bei einem Herrn Brauer, der eine Gesellschaft hatte. –

Mit dem Glaubensbekenntnis, das die Schädel ablegen sollte, verzögerte es sich von einer Zeit zur andern. Täglich zwar hatte sie 1 bis 2 Stunden Unterricht in der Kirche bei[33] den Jesuiten. Aber sie fanden sie so hartlehrig, daß sie ihnen zum öffentlichen Bekenntnis noch nicht tauglich genug schien. Die wahre Ursache aber war die: Michelanzky wurde öffentlich in allen Gesellschaften wegen seiner Neubekehrten aufgezogen und ihm der Name des dreizehnten Apostels beigelegt. Um also allen Verdacht von sich abzuwälzen, gab er der Schädeln zu verstehen, daß, sobald sie ihr Glaubensbekenntnis würde abgelegt haben, so sollte sie in ein Kloster. – Nun gingen ihr die Augen auf, die Hoffnung, Frau v. Michelanzky zu werden, fiel weg, und Klosterfleisch war ihr nicht gewachsen. Sie stellte sich also zu klug, oder auch zu dumm, und so foppte sie eine Woche nach der andern ihren geistlichen Lehrer. – Auch die Haushälterin, die Michelanzky schon bei Lebzeiten seiner verstorbenen Frau bei sich gehabt, wurde eifersüchtig, daß sie seit der Zeit, daß er die Proselytin gemacht, nicht mehr so von ihm wie sonst geachtet war. Die Haushälterin konnte der Neubekehrten Mutter sein. Also war er in dem Punkt einigermaßen zu entschuldigen. Doch zu sehr gewohnt, von dem frommen Drachen sich befehlen zu lassen, auch nun seiner Schädel überdrüssig, kündigte er ihr an, daß sie entweder auf Johanni, wo nicht, auf den nächst fallenden Marientag, ihren Glauben abschwören müßte. Nun sah die Schädel Ernst. Also mußte sie nun zu ihrem wahren Ernst greifen. Eines Morgens also tritt sie zu Michelanzky ins Zimmer und fängt an: »Ihro Gnaden, mein gnädiger Herr, ich habe eine untertänige Bitte an Sie.« »Was willst du?« »Ich wollte Sie in aller Untertänigkeit gebeten haben, ob Sie mich nicht wieder wollen nach Nürnberg reisen lassen zu meinen Eltern.« »Ja, du infame Kanaille! Du hast ja gesagt, du wolltest katholisch werden.« »Ich? Ich habe keinen Gedanken davon gehabt! Sie haben mich dazu überreden wollen, aber ich finde, daß ich keinen Beruf dazu habe, und noch weniger zu einem Kloster, darin Sie mich nun wollen einsperren lassen.« Kaum hatte sie ausgeredet, als die Haushälterin gleich einer Furie ins Zimmer stürmte, denn sie hatte gehorcht, und vielleicht wohl nicht zum erstenmal, über die Schädel her, maulschelliert sie, reißt sie bei den Haaren, so daß H. v. Michelanzky kaum stark genug war, dem christlichen Religionseifer seiner[34] Xanthippe Einhalt zu tun. Er machte Frieden, so gut er konnte, durfte es aber nicht wagen, den Tag auszugehen, denn die Haushälterin hatte der Schädel den Tod geschworen, weil sie dachte, gewiß dadurch alle ihre Sünden zu tilgen, wenn sie so einem lutherischen Ketzer und Hund den Garaus machte. Des Abends gegen 8 Uhr schickte Michelanzky seine Magd nach meiner Mutter, mit der Bitte: »Sie möchte zu ihm kommen auf ein Gericht Spargel und Krebse.« – »Ja, wie kommt H. v. Michelanzky dazu? Grüßen Sie solchen wieder! – Meinen Gaumen hat H. v. Michelanzky mir und meinen Kindern mit an Wasser und Brot gewöhnen helfen; ich komme nicht.« Die Magd geht, kommt bald zum zweiten- und endlich zum drittenmal wieder. Meine Mutter aber sagt: »Nein, ich gehe nicht. Was soll ich?« Bis endlich die Magd um Gottes willen bittet und meiner Mutter erzählt, was sich zugetragen; aber sie bittet, sie nicht zu verraten. Nun entschloß sie sich und ging zu H. v. Michelanzky hin. Herr v. Michelanzky saß mit seiner Tochter am Tisch, jedes ein Buch vor sich und las. Die Schädeln an dem Ofen in einem Winkel, und die Haushälterin am Fenster. Nach dem ersten Kompliment, welches meine Mutter ziemlich spitzig faßte, und wegen der Stille, die bei ihm herrschte, versicherte sie, daß sie sich gar nicht wunderte, daß die Schädel so hätte fromm werden müssen. »So still bei meinem Gewerbe konnte es nicht sein.« Sie mußte sich mit an den Tisch setzen, und es wurde aufgetragen, doch wenig gegessen und noch weniger gesprochen. Endlich, als meine Mutter aufstehen wollte, brach H. v. M. das Stillschweigen und erzählte, was den Morgen vorgefallen. Sagt unter anderm, daß er die elende Kreatur, »die Sie, Madame, um Ihr Brot gebracht, mich und die ganze Geistlichkeit zum Narren gehabt,« öffentlich wollte auspauken lassen (eine Strafe, die man in Ingolstadt liederlichen Weibspersonen antut). Meine Mutter lachte bitter H. v. Michelanzky ins Gesicht: »Heucheln würde ich, wenn ich's leugnete, daß ich's Ihnen von Herzen gönne. Alles das sagten mein Mann und ich vorher. Die Schädeln ist strafbar, Sie aber noch weit mehr! Hätten Sie ihr nicht geschmeichelt, daß sie nicht auf den Gedanken gekommen wäre, heut oder morgen Ihre Frau[35] zu werden, ihr gleich gesagt, daß sie eine Klosterfrau werden sollte, nie würde sie auf die Gedanken gekommen sein. Was die öffentliche Beschimpfung anbelangt, sollen und werden Sie auch solches bleiben lassen müssen, weil ich es nimmermehr würde geschehen lassen. Jetzt habe ich ein Wort mitzusprechen, und mehr wie Sie. Sie war auf meinem Theater, und der Schimpf traf auch mich. Sie war gut, und nur durch Sie wurde sie das, was sie ist. Ist durch ihre öffentliche Beschimpfung mein Schaden ersetzt und werde ich dadurch mehr eine ehrliche Frau? Nein, Herr von Michelanzky. Machen Sie Anstalt, daß sie wieder zu ihren Eltern kommt, dahin will ich sie geschickt wissen, sonst nirgends.« H. v. Michelanzky bat darauf meine Mutter, sie möchte die Güte haben und sie solange bis zu ihrer Abreise wieder zu sich zu nehmen. »Das kann ich nicht.« »Madame, ich bitte Sie um Gottes willen, nehmen Sie sie nicht zu sich, so geschieht Mord und Totschlag zwischen ihr und meiner Haushälterin.« Kaum hörte sich der alte Satan nennen, so erhob sie ihre Stimme. »Ja, mich sollen alle Teufel zerreißen, muß ich noch eine Nacht mit dem Ketzer unter einem Dach sein, ich steche ihr das Brotmesser in den Ranzen.« »Da hören Sie es selbst!« »Nun, so bitten Sie meine Wirtsleute darum, ich darf es ohne denen ihr Vorwissen nicht wagen, und muß ja selbst Gott danken, da ich ihnen schuldig bin, daß sie mich mit meinen Kindern nicht auf die Straße hinauswerfen.« Herr von Michelanzky schickte seine Magd zu unsern Wirtsleuten, nicht ohne ein paar Gulden. Geld machte sie willig und bereit, und es hieß, ja, sie sollte nur kommen. Die Haushälterin hatte sich zum Zimmer hinausgemacht und sich auf der oberen Treppe versteckt. Meine Mutter nahm die Schädeln bei der Hand und sagte: »Nun, so kommen Sie!« Sie, bange vor der Haushälterin, wollte geschwind die Treppe hinunter. Aber die Alte kam auf sie zu, gab ihr einen Stoß in den Rücken, daß die Schädel die ganze Wendeltreppe hinunterstürzte. Das alles sah der gnädige Herr gelassen mit an und getraute sich seiner Alten kein Wort zu sagen. Wehe, wenn Herrschaften sich so ihrer Rechte begeben! Zum Glück, daß sie außer einigen blauen Flecken weiter keinen Schaden genommen hat. Als meine[36] Mutter sie zu uns ins Zimmer brachte, fiel sie vor ihr nieder auf die Knie, weinte, benetzte meiner Mutter Hände mit Tränen und bat um Vergebung. »Würde ich glücklich, wenn ich Ihnen nicht vergebe? Gott vergebe es Ihnen, ich verzeihe es Ihnen auch. Reisen Sie zu Ihren Eltern, aber sagen Sie solchen die Wahrheit und führen Sie sich so auf, daß nie wieder solche Tränen über Sie fließen, wie ich mit meinem Mann und Kindern über Sie geweint haben.«

Nach Verlauf von einigen Tagen wurde sie fortgeschickt nach Nürnberg. Nach der Zeit hat sie sich verheiratet mit einem Schauspieler, der Schwager hieß. Ist lange in Wien gewesen, und nun ist er und sie tot, haben sie nie wiedergesehen.

Die Begebenheit breitete sich bald in der ganzen Stadt aus, und Herr v. Michelanzky spielte eine erbärmliche Figur. Von dieser Zeit an mußte ich alle Tage bei seiner Tochter sein. Ich hatte meine Kost da, Mittag und Abend. Meine Mutter bekam nun volle Arbeit, und das nicht allein, man schickte ihr Holz, Lichte, Essen, Wein, alles mögliche ins Haus. Doch davon konnte unser Wirt nicht bezahlt werden, der über 100 Gulden und mehr zu fordern hatte. An einem Vormittag, so gegen 11 Uhr, nahm meine Mutter meinen Bruder und mich bei der Hand und sagte. »Nun wollen wir nach der Jesuiten-Kirche.« Der Gottesdienst war vorbei, aber die Kirche noch offen. Karl schickte sie in die Sakristei mit dem Auftrag, er solle sagen, ein Geistlicher möchte herauskommen in den Beichtstuhl, es wolle jemand beichten. Mein Bruder kommt, und bald nach ihm ein Pastor, der sich in einen Beichtstuhl setzt. Meine Mutter tritt auch in solchen. Als sich der Geistliche anschickt, um die Beichte zu hören, fängt meine Mutter an: »Beichten will ich nicht.« »Nun, so habe ich hier auch nichts zu tun,« antwortete er, und will aufstehen. »Bleiben Sie!« sagt meine Mutter. »Will ich nicht beichten, so müssen Sie doch hören, was ich Ihnen zu sagen habe. Hören würden Sie mich nicht, wenn ich nicht diesen Vorwand gebraucht hätte. Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin die Schulzen, des Komödianten Schulze seine Frau, und da sitzen meine Kinder. Mein Mann ist von mir getrennt, irrt[37] in der Fremde umher und sucht Brot für mich und seine Kinder. Wir sind hergekommen als ehrliche Leute, und Sie haben mich und meine Kinder an den Bettelstab gebracht.« »Madame, sprechen Sie nicht so laut!« (denn es waren noch einige Leute in der Kirche). »Warum soll ich nicht laut sprechen? Es ist Wahrheit! Wollte Gott, Sie hätten auch nicht laut gesprochen!« »Aber, was wollen Sie?« »Was ich will? Wegreisen so ehrlich, wie ich hergekommen bin, meine Gläubiger befriedigen. Ich bin schuldig, will bezahlen, kann aber nicht, denn ich habe kein Geld. Also, ich bitte, machen Sie Anstalt, ich reise nicht von hier. Haben Sie mich in dieses Unglück gestürzt, da Sie einem jungen Mädchen mehr geglaubt, wie mir und meinem Mann, so ist es Ihre Pflicht, mich herauszuziehen.« »Madame, Sie verlangen Geld von uns? Wir selbst sind so arm, daß wir kaum einen Kreuzer auf Schnupftabak haben.« »Ach, Karl,« sagte ich zu meinem Bruder, »höre, wie der Geistliche lügt! Das ist ein rechter Jesus-zuwider. Die arme Mama!« Meine Mutter, nach einer starken Pause, ehe sie sich darauf fassen konnte, fängt an: »Das steht mir nicht zu, zu untersuchen. Haben Sie es nicht, so lassen Sie es in dem Konvikt zusammenlegen. Genug, ich kann nicht meine Kinder an die Hand nehmen und, wie ich gehe und stehe, zum Tor hinauslaufen, und all das Meinige zurücklassen. Wollte Gott, ich hatte es nicht nötig gehabt, diesen Schritt zu tun. Doch, da die Umstände so gekommen, blieb mir kein anderer Weg übrig. Durch Lügen und Lästerungen bin ich in den Zustand versetzt worden. Mir geschah Unrecht! Also ist es Pflicht; selbst die Religion befiehlt es Ihnen, so viel, wie in Ihren Kräften steht, wieder gut zu machen. Mein Zustand ist so, daß, wenn Sie nicht Anstalt machen, ich laut über Ungerechtigkeit schreie, ich alles wage! Wenn Sie Ihre Ohren für mich verschließen, wo soll ich Barmherzigkeit finden?« Der Geistliche wurde gerührt. »Madame, ich verspreche es Ihnen hier, ich werde für Sie sprechen, gedulden Sie sich nur etliche Tage! Es soll Ihnen geholfen werden.« »So lohn's Ihnen Gott.« Und meine Mutter trat aus dem Beichtstuhl, der Geistliche grüßte und ging in die Sakristei, und wir nach Hause.[38]

Noch in derselben Woche schickten die Jesuiten, mit ihrem Petschaft versiegelt, zweimal an meine Mutter Geld; einmal 30 Gulden und einmal einige 40 Gulden. Täglich fast kam Geld – ohnfehlbar auch durch ihre Vorsprache. Meine Mutter zahlte dem Wirt und löste nach und nach ihre versetzten Sachen ein. Wir wurden bald da, bald dort, zu Tisch gebeten. Mein Karl speiste bald da, bald dort; ich war bei Herrn v. Michelanzky, so daß wir also wenig oder nichts für Essen und Trinken ausgeben durften. Der Mann, der das Bauholz zu dem Theater hergegeben, nahm sein Holz zurück, und als meine Mutter nach der Rechnung frug, schickte er ihr solche unterschrieben, ohne ihr einen Groschen abzufordern, und ebenso machte es der Nagelschmied und Lichterzieher. Gott lohn's ihnen! Warum weiß ich nicht alle ihre Namen, daß ich sie hier noch öffentlich nennen kann!

Meine Mutter schrieb alles an meinen Vater. Gott weiß, wo der Vater überall war! Endlich, so gegen Ende des Julius, kamen Briefe von meinem Vater aus Passau, daß er den Johannes Schulz dort angetroffen und, in der Hoffnung, zu seiner alten Schuld zu gelangen, sich bei ihm mit uns von neuem engagiert, weil er ohnedies Leute brauchte, so wie mein Vater.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 26-39.
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