Bühnenunfall. Ein »Präsent«.

[208] Meine Mutter wurde immer schwächer, und jeder Tag überzeugte mich immer mehr und mehr von der Gewißheit, daß ich sie nicht lange mehr haben würde. Den 6. Dezember war die letzte Komödie vor dem Advent. Ich ging zur Probe; es sollte mit dem »Blinden Ehemann« und der Nachkomödie: »à la gruge« geschlossen werden. Da ich in beiden zu tun hatte, sagte Herr Schröder zu mir: »Im Ballett sind Sie heute frei, wir machen die ›Blinde Kuh‹.« »Das ist schön,« sagte ich, und wollte fort. »Ach,« sagte Madame Courtée, »ich werde froh sein, wenn es heute aus ist.« Sie war hochschwanger und hatte keine Stunde mehr vor sich. Das jammerte mich. »Sie haben ja heute nur zu figurieren.« »Ja.« »Nun, so geh'n Sie nach Hause, ich will für Sie figurieren und Ihre Figur geschwinde einlernen. Wenn ich einmal in Ihre Umstände kommen sollte, so mögen Sie einmal wieder für mich tanzen.« Wir lachten zusammen, und ich lernte die Figur. Da mein Bruder mit Herrn Schröder und seiner Schwester tanzte, sollte ich im Finale das Minor mit ihnen tanzen.

Alles ging den Abend vortrefflich. Das Haus war sehr voll, und ich sehr aufgeräumt, da ich wußte, ich konnte nun im Advent bei meiner guten Mutter sein und die warten[208] und pflegen. Das Finale vom Ballett geht an, ich tanze mit, wir machen alle vier die Volten in einem Tempo, gehen auch vier- bis fünfmal gut – Patz! saß ich an der Erde und sah statt links, rechts. »Jesus!« war alles, was ich sagte. Mein Bruder hob mich auf, aber ich konnte nicht stehen und wurde von ihm vom Theater getragen. Der linke Fuß war aus dem Gelenk gefallen. Wurde eingerichtet unter den rasendsten Schmerzen. Herr Manteufel von Zöge, schwedischer Gesandter, kam aufs Theater, ließ seinen Wagen vorfahren und brachte mich mit Herrn Doktor Lossau nach meinem Haus. Karl war voraus fortgelaufen, um meine Mutter vorzubereiten, daß sie keinen Schreck haben sollte. Ging auch noch so ziemlich mit ihr über.

Da lag ich, Schreck und Schmerz zogen mir ein heftiges Wundfieber zu. Bei diesem Unfall, der mir begegnete, fingen an meine Augen aufzugehen. Kurz, ich sah, daß man auch in Hamburg Liebe für mich hatte. Das Geschicke aus der Stadt und Umgegend nach meinem Befinden nahm fast gar kein Ende. Die Bedienten und Dienstmädchen drängten sich untereinander.

Ich lag elend, und meine Mutter legte sich den 10. Dezember. Herr Doktor Dahl, unser Medikus, sagte zu mir: »Mademoiselle Schulz, Sie müssen sich von Ihrer Mutter betten, es ist nicht mehr ratsam, daß Sie bei ihr schlafen.« Da wurde mir denn ein Bettchen auf Stühlen gemacht. War ein wahres Lazarett bei uns im kleinen. An Aergernis fehlte es mir auch nicht. Weil ich nicht wie ein Ochs hingeplumpst, da ich gefallen bin, hieß es, ich wäre mit Willen gefallen, damit ich den ganzen Advent zu Hause bleiben und nicht zu Tanzproben gehen dürfte. – Noch mehr: auch hieß es, ich würde ein Präsent bekommen. Ein gewisser Derslin hätte gesagt auf dem Kaffeehaus: »Die Bremer haben die Hamburger doch recht beschämt. Nur so kurze Zeit waren sie dort, und man bezeugte ihnen soviel Aufmerksamkeit. Wie lange ist nun schon die Mademoiselle Schulze hier, und hat ihr wohl einer noch eine Freude gemacht? Wie sauer läßt sie es sich werden, und wie viele Freude macht sie uns nicht allen! Nun liegt sie gar da.« Da hätten denn einige die Rede gebilligt und sich vorgenommen,[209] mir eine unvermutete Freude zu machen. Nun war ich bis an den Hals voll Galle. An einem Sonntagmorgen kommt Herr Ackermann zu uns. »Ach, Ihre Dienerin, Herr Ackermann, gelegener hätten Sie mir auch nicht kommen können, wie eben jetzt. Bin eben bei meinem Fußwaschen. Da, sehen Sie doch die Verstellung mit an, sind ein Chirurgus und müssen's verstehen, ob man sich mit Willen so was machen kann!« Machte meinen Fuß von den Bandagen los. »Mein Gott,« sagte Ackermann, »wie sieht der Fuß aus!« »Ist ja Verstellung, damit ich nicht zur Tanzprobe gehen darf.« – »Oh, Mademoiselle Schulze, ärgern Sie sich nicht, Sie wissen ja, was ich für Kanaillen mit bei der Gesellschaft habe.« Mein Fuß, der von der äußersten Spitze der Zehen bis ans Knie alle nur möglichen Farben hatte, denn ich hatte solchen ganz unter mir gequetscht, wurde von mir einbalsamiert. Ackermann sah sich in der Stube um und fing an: »Nun, ist noch nichts geschickt worden?« »Was meinen Sie? Etwa das Präsent, wovon schon die Jungens und Mägde auf den Straßen sprechen? Und hab's noch nicht einmal gesehen. Da kommt man mir eben recht. Sehen Sie, Herr Ackermann, nicht einmal zu geben verstehen Ihre so sehr gepriesenen Hamburger. Kurz, ich mag, ich verlange nichts von hier, und zu toll sollen sie es mir nicht machen. Wissen Sie, Herr Ackermann, Herr Koch aus Leipzig hat sehr gewünscht, daß ich mich mit Karl bei ihm engagieren solle. Auch gestehe ich es Ihnen, wir wären fortgegangen, wenn Madame Hensel nicht wieder hierhergekommen wäre; denn Hamburg war ich satt vom ersten Augenblick an. Weil aber die ganze Stadt gesagt hätte: ›Wegen der Hensel ist die Schulze von Hamburg gegangen; zwei gute Aktricen können sich nicht vertragen‹, sehen Sie, so ließ es mein Stolz nicht zu. (Denn mein Stolz verursachte mir gewiß den dritten dummen Streich, den ich meines Glücks und meiner Zufriedenheit halber selbst gemacht hatte.) Sie hat ihre Verdienste, aber auch ich die meinen, und ich kann ihr immer die Wagschale halten. Nun noch das dumme Gerede! Habe ich von jemandem noch in meinem ganzen Leben was verlangt? Und das sag' ich Ihnen, ich nehme nichts. Erst glaube ich, daß[210] es Lügen sind, aber sollte es wahr sein, so schicke ich das Präsent dahin, wo es herkommt.« Herr Ackermann sagte darauf: »Tun Sie das um Gottes Willen nicht, das Gespräch kommt von Leuten, die es Ihnen vielleicht nicht gönnen, Ihren hitzigen Kopf kennen und hoffen, daß Sie's zurückschicken sollen, um sich den größten Teil der Stadt zum Feind zu machen. Sie wissen, ich liebe Sie wie mein Kind. Aber wenn Ihre Ehre dadurch nur im geringsten beleidigt würde, wenn Sie es annehmen, so wollte ich schon selbst sagen: Kind, nehmen Sie es nicht, Sie brauchen es ja nicht! Aber so trauen Sie mir als Ihrem wahren Freund, und nehmen Sie es an, oder Sie machen sich unerhörte Feinde im Publikum. Noch gestern war ich in einer Gesellschaft, wo gesagt worden: ›Wenn doch nur einer wäre, der Mademoiselle Schulze raten wollte, daß sie es annehme; wir haben gehört, daß sie es nicht nehmen wolle‹; so habe ich geantwortet: Ich will's über mich nehmen und es ihr sagen, und darum bin ich heute gekommen. Machen Sie also keinen tollen Streich, ich bitte Sie!« – »Nein, Herr Ackermann, das müssen Sie doch selbst gestehen, daß ich noch in meinem Leben in keinem solchen Ort gewesen bin wie hier. O mein Hannover, o Ihr guten Bremer. Jede Freude, die man hier einem auch mal machen will, wird so recht hamburgerisch angefangen. Nun, ich sage es Ihnen offen: Hier sterbe ich gewiß nicht.«

Am Christabend kommt endlich das schrecklich große Geschenk – 24 Dukaten, ohne jede Zeile dabei! Die Erkundigungen nach dem Befinden werden allmählich seltener. – Nur der Name Herr Kummerfeld blieb.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 208-211.
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