Das Vorstellen.

[56] Hilde Müller aus Magdeburg war nach Potsdam gekommen, um Helgas Besuch zu erwidern. Ihr Bruder Werner, der nach Berlin mußte, hatte sie in seinem Wagen mitgenommen. Pünktlich auf die Minute trafen sie ein. Helga war überglücklich. Mit einem kleinen Freudengeheul führte sie die beiden Gäste ins Zimmer. Hilde und Werner Müller waren zum ersten Male bei Helgas Eltern.

»Darf ich vorstellen?« rief Helga. – Pause. – »Mutti, paß auf, ob ich's nicht doch wieder verkehrt mache!« fuhr sie lachend fort.

»Aber Helga!« mahnte die Mutter.

»Ha, jetzt hab ich's!« sprach Helga und tippte sich une der lirbin-Mann vor die Stirn.

»Also (eine leichte Handbewegung zu Geschwister Müller), Fräulein Müller, Herr Müller (eine ebenso leichte Handbewegung nach der anderen Seite), meine Mutter, mein Vater, mein Bruder.«[56]

Nach der freundschaftlichen Begrüßung sagte Gunther leise zu Helga: »Hast es richtig gemacht. Merke dir ein für allemal: Beim Vorstellen hat immer der Aeltere, der Ranghöhere oder die Dame das Recht, zuerst den Namen des anderen zu erfahren.

Wenn du z.B. einen Schulrat nud einen Lehrer bekannt machst, dann nennst du zuerst den Namen des Lehrers, damit der Schulrat als Ranghöherer zuerst den Namen des anderen Herrn erfährt. Wenn du unsern Vater und Herrn Müller bekannt machst, dann nennst du zuerst Herrn Müllers Namen, damit Vater als der Aeltere zuerst den Namen des Jüngeren hört. Stellst du aber mich Fräulein Müller vor, so mußt du meinen Namen als ersten nennen: denn die Dame hat ein Anrecht darauf, zuerst den Herrn kennenzulernen, der ihr vorgestellt wird. Nun wirst du mir ohne weiteres sagen können, wie es zwischen Mutti und Fräulein Müller sein müßte?«

Helga antwortete prompt und richtig: »Ich müßte dech Hilde zuerst nennen, weil sie die Jüngere ist.«

Es entwickelte sich aus dieser kleinen Belehrung sogleich em mteressantes Allgemeingespräch. »Es ist schon so«, sagte Werner Müller, »aber eigentlich ist es doch recht komisch. Sonst heißt es immer: Die Dame oder das Alter hat den Vorrang, und hier werden die Herren oder die Jüngeren zuerst genannt.«

Hilde Müller erklärte die Sache aber sehr richtig: »Ja, das ist deshalb so, damit sich der ältere Herr oder die Dame überlegen kann, ob man den jüngeren freundschaftlich oder nur ganz formell begrüßt.«

Bei Tisch führte man das Gespräch fort.

Da sagte Helgas Miutter: »Manchmal wird über haupt nur ein Name beim Vorstellen genannt. Wenn z.B. der Altersunterschied zwischen einem jungen Mládchen und einer vornehmen älteren Dame sehr groß ist, wird nur der Name des jungen Mädchens genannt. Genau so würde es zwischen einem berühmten Professor und einem jungen Studenten sein.«

Der Vater fügte hinzu: »Und das ist euch jungen Leuten doch wohl auch bekannt, daß ihr in Gesellschaft die Dame oder[57] den Herrn des Hauses oder in Abwesenheit derselben sonst einen Bekannten bitten müßt, euch vorzustellen. Was dann etwa mit den Worten geschieht: ›Darf ich mir gestatten, Ihnen meinen Vetter, Herrn Fliege, vorzustellen?‹ – Worauf der andere dann antwortet: ›Brummer.‹ Falls er zufällig so heißt.

Oder Herr Grünspecht bittet um die Ehre, vorgestellt zu werden. Na, wem denn gleich – – –?«

»Dem Herrn Kapellmeister Spatz!« fügte Helga vergnügt hinzu.

Da mußten sie alle lachen.

»Wenn jemand mehreren Personen vorgestellt wird, dann wird zuerst sein Name genannt und dann die Namen der andern. Von denen er im besten Falle die beiden ersten behält«, sagte Werner Müller.

»Das habe ich ja vorhin mit euch beiden praktisch geübt, nicht wahr Hilde?« wandte sich Helga an die Freundin.

Gunther schloß die Unterhaltung mit den Worten: »Uns ist in unserem Schulungsabend gesagt worden: Wir sollen beim Vorstellen die Hauptgrundsätze, so wie wir sie hier eben erwähnten, beachten, aber uns nicht um gezirkelte Spitzfindigkeiten der ehemaligen ›Etikette‹ (Anstandslehre) kümmern.«

»Es ändert sich ja auch so mancherlei mit den Jahren«, fügte der Vater noch bekräftigend hinzu, »z.B. sagt heute kaum noch jemand beim Vorstellen: Angenehm, oder: sehr angenehm! Das ist auch ganz richtig, denn einem Menschen, der mir unangenehm ist, werde ich mich doch nicht vorstellen oder ihn mir vorstellen lassen.« –

»Aber es ist doch ganz gut, wenn man ein bißchen darüber Bescheid weiß!« meinte die Mutter zum Schluß.

»Kommt, Kinder, den heutigen Nachmittag verbringen wir gemeinsam am Havelstrand im Luftschiffhafen. Wir fahren mit dem Boot raus. Dein Bruder muß diesen, Nachmittag schon einmal opfern.« Helga wirbelte mit der Freundin zur Tür hinaus, und die beiden Brüder folgten ihnen.[58]

Quelle:
Schütte, Carl: Willst du erfahren was sich ziemt? Caputh-Potsdam [o. J.], S. 56-59.
Lizenz:
Kategorien: