Theater

[76] zu benehmen hat, und geht doch schon so lange ins Theater. Ist der Kassierer am Theaterschalter sehr freundlich, so freue man sich, denn dann ist das Haus noch leer, und man bekommt ohne weiteres einen Platz. Ist das Theater aber so voll, daß man, wie es in den Reklamen heißt, mit Vielen unbefriedigt sich entfernen mußte, so freue man sich gleichfalls, denn wer weiß, wie unbefriedigt man sich entfernt hätte, wenn man noch einen Platz gefunden haben würde.

Hat man seinen Parkettsitz in der Mitte der Bank, so komme man zu spät, wenn möglich erst nach dem Beginn des Aktes. Ebenso mache man es nach der Pause vor dem dritten oder vierten Akt. Denn dann müssen sich die bis zu dem gesuchten Platz sitzenden Zuschauer erheben, sehen ein, wie rücksichtslos,[76] ja pöbelhaft dieses verspätete Kommen thatsächlich ist und nehmen sich vor, künftig pünktlich zu erscheinen, es sei denn, sie hätten einen Eckplatz.

Sitzt man neben einem jener unglaublich rohen Zuschauer, der sich mit einem Nachbar laut, oder doch so unterhält, daß man es hören muß und gestört wird, so frage man ihn, warum er es sich gefallen lasse, daß er durch das Sprechen oder Singen auf der Bühne fortwährend unterbrochen werde. Da er, wie wir gesehen haben, sehr ungebildet ist, so versteht er die Frage nicht.

Hört man gleich nach dem Beginn einer Novität einen der bekannten und angenehmen Zuschauer sagen: »Schon faul!«, so freue man sich, denn man hat vielleicht bisher geglaubt, es existiere kein solcher Geselle, da er ein Gebild der Phantasie sei. Der sitzt leibhaftig vor einem.

Besucht man mit einer Dame ein realistisches Stück, so habe man Schokolade für sie und Parfüm für beide.

Man gehe in keine Novität eines Autors, der viele Verwandte und Freunde hat, da man den Stock in der Garderobe abgeben muß und ihn also vermißt, wenn das Stück durchfällt.

Hat man einen Nachbar, der seinen Husten mit in das Theater gebracht hat, so entferne man sich und lasse sich an der Kasse einen anderen Platz anweisen. Es giebt meines Wissens kein besseres Mittel gegen den Husten, da die, welche man in der Apotheke bekommt, wie man sieht und hört, nichts taugen. Dies befolge man so lange, bis die Direktionen das Recht erlangen, passionierte Huster aus dem Zuschauerraum zu weisen, oder bis diese so anständig werden, zu Hause zu bleiben. Dies wird noch einige Saisons dauern.

Sitzt man neben einer Dame, in die man verliebt[77] ist, so warte man mit der intimeren Zärtlichkeit bis nach den Zwischenakten, da es erst während des Spiels so dunkel wird, daß man den Theaterzettel nicht lesen kann. Um sich hierüber nicht ärgern zu müssen, sei man also in die Nachbarin verliebt.

Wohnt man der Vorstellung einer Posse bei, so wird man in seiner Nähe einen Narren finden, der außer sich ist und den Kopf bedenklich schüttelt, wenn man lacht. Dann lache man auch über diesen Narren und sei ihm dankbar gesinnt.

Hört man während eines allgemeinen Beifalls zischen, so darf man überzeugt sein, daß der Zischer bezahlt ist, denn sein Zischen bewirkt immer einen etwas gesteigerten Beifall. Ist er nicht bezahlt, so bedauere man ihn, denn dann ist er unheilbar.

Im Foyer vermeide man, über die Aufführung mit solchen Leuten zu reden, welche wegen ihres Urteils in Ansehen zu stehen scheinen, denn sie reden sehr viel und noch lauter. Man vermeide sie, weil sie absolut nichts vom Theater verstehen.

Wenn man nicht sehr klassikerfest ist, so überzeuge man sich, bevor man das Theater betritt, ob nicht die Vorstellung geändert worden ist und ein anderes Stück gegeben wird, oder ob man nicht ein Stück zu sehen glaubt, das gar nicht zur Aufführung gelangt. Es ist im Deutschen Theater zu Berlin vorgekommen, daß ein Herr, der einen sehr anständigen Eindruck machte, in einer Vorstellung der Schillerschen »Maria Stuart« im zweiten Akt zu seinen beiden Damen sagte: »Das ist ja alles sehr hübsch, aber warum das Stück ›Die Kinder der Excellenz‹ heißt, das weiß ich nicht.« Dergleichen ist nur dann nicht unangenehm, wenn keine Ohrenzeugen anwesend sind.

Möchte man einmal einen Menschen sehen, dem niemals ein Witz gelingt und der ebenso selten einen guten Einfall hat, so betrachte man den Zuschauer,[78] der bei irgend einem Scherz Au! ruft. Wem selbst dann und wann ein guter oder schlechter Witz einfällt, der wird im Theater nicht auen. Das Au! ist nur dann oft nicht zu vermeiden, wenn der Autor gerufen wird.

In einer Erstaufführung bemühe man sich, die Urteile der Dummköpfe zu hören, deren jeder das betreffende Stück besser gemacht hätte und genau angiebt, wie er es gemacht haben würde. Da wird man mit leichter Mühe lernen, wie man sich davor bewahrt, durch ein ähnliches Geschwätz lächerlich zu werden.

Es giebt im Theater angenehme Nachbarn, welche dann und wann fragen, was eben auf der Bühne gesagt worden sei. Diesen antworte man höflich und der Wahrheit gemäß: »Was der Verfasser vorgeschrieben hat.« Will man aber gern wieder und immer wieder gefragt werden, so unterlasse man die angegebene Antwort und gebe genaue Auskunft. Denn man trifft im Theater viele Leute, welche das Prinzip haben: Im Theater langweile man sich nicht, sondern andere. Man muß also dafür sorgen, daß man keiner der anderen sei und gelangweilt werde.

Hört man jemand alles tadeln, was die Bühne leistet, so kann man sicher sein, einen Herrn aus einer kleinen Stadt zu hören, der noch nichts gesehen hat.

Fällt ein Stück mit oder ohne Pauken und Trompeten durch, so gebärde man sich nicht, als sei man von dem armen Autor persönlich beleidigt worden. Man ist doch nicht sicher, daß man nicht auch eine Tages strauchelt und ein Stück schreibt, und wer garantiert dafür, daß es ein Kassenstück wird? Vielleicht wird es nicht zu Ende gespielt. So angenehm dies vielen sein mag, da sie dann um so früher zum Abendessen kommen, so unangenehm wird man persönlich da durch berührt.

Amüsiert man sich nur dann im Theater, wenn[79] ein Skandal losbricht und ein Stück durchfällt, so vermeide man trotzdem die Novitätenabende. So niederträchtig es ist, mit solchen Hoffnungen ins Theater zu gehen, so möglich ist es doch auch, daß die Novität nach Verdienst gefällt. Dann hat man den Abend verloren und sich den Erfolg der Arbeit eines fremden Mannes selbst zuzuschreiben. Allerdings kommt man, wenn man den Erstaufführungen fernbleibt, um manchen Theaterskandal und muß so auf etliche Freuden verzichten, und es ist auch schwer zu sagen, wie man sich als Theaterskandaler ergötzen soll, wenn man die Premieren meidet. Hier versagt also mein Leitfaden. Es steht aber fest, daß man nicht mit Sicherheit auf den Durchfall eines neuen Stückes rechnen kann, wie es so allgemein geschieht.

Findet in einem der königlichen Theater eine Erstaufführung statt und ist der Hof anwesend, so starre man fortwährend in dessen Logen. Dies giebt einem das Ansehen eines begeisterten Anhängers der Regierung und ihrer hervorragenden Mitglieder, sowie das eines noch unverdorbenen Gemüts und verbindet zugleich das Angenehme mit dem Nützlichen, indem man von der vielleicht wertlosen Novität nichts oder wenig sieht oder hört. Über diese erfährt man ja am anderen Morgen jedenfalls das Nähere.

Wenn man nicht recht weiß, wie man über eine Novität urteilen soll und wie man sich amüsiert hat, so warte man gleichfalls die nächsten Morgenzeitungen ab. Erfährt man es auch aus diesen nicht, so schelte man auf die Rezensenten.

Ist man über Stück und Darstellung anderer Meinung als der Kritiker, so halte man sich für unbedingt klüger und nenne die Kritiker Dummköpfe, Hansnarren, bestochen, Liebediener, Esel, Schauerböcke, Kläffer und Verrückte, wodurch man sich den Respekt und die Bewunderung in der Gesellschaft und am[80] runden Tisch sichert. Ist aber einer der Kritiker anwesend, so zeige man Mut und stimme ihm vollkommen bei.

Findet man eine Schauspielerin oder Sängerin häßlich, so kaufe man ihre Photographie. Auf dieser sieht sie immer sehr bezaubernd aus.

Findet man einen Schauspieler oder Sänger unbedeutend, so kaufe man seine Photographie. Auf dieser sieht er immer sehr bedeutend aus.

Ist man auf ein Freibillet ins Theater gegangen und möchte dies verdecken, so sei man ein dankbarer Zuschauer, applaudiere und lobe, denn es ist allgemein bekannt und kann auch nicht bestritten werden, daß Freibilletbesitzer stets unzufrieden sind und dem Theater gern jeden Erfolg schmälern, während sich jeder, der seinen Platz bezahlt hat, nicht gern den Genuß gewaltsam verkümmert.

Will der Besitzer eines Freibillets ein Übriges thun, um den Eindruck hervorzurufen, er habe seinen Platz bezahlt, so rufe er im Foyer mehrmals ärgerlich aus: Schade ums Geld! Wird er zur Rede gestellt, so rechne er dem Ankläger vor, daß er zehn Pfennig für den Theaterzettel und fünfundzwanzig für die Garderobe bezahlt habe. Dies stimmt häufig.

Man habe immer zwei Theaterzettel, nämlich einen zum verleihen. Denn es giebt gewerbsmäßige Zettelpumper, welche sich gern den Abend um zehn Pfennig verbilligen und, wie auf der Straße um Feuer, im Theater um den Zettel bitten, ohne wegen Bettelns bestraft zu werden.

Will man sich im Zwischenakt ganz besonders angenehm machen, so zeige man einem Freunde aus der Provinz alle litterarischen Berühmtheiten, wenn er solche sehen will. Diesen Wunsch erfüllt man, indem man einem ganz harmlosen Herrn den Namen eines berühmten Schriftstellers verleiht und dies so[81] oft wiederholt, bis man keinen berühmten Namen mehr weiß. Da der Freund aus der Provinz keine Kontrolle ausüben kann, so hat man völlig freie Hand, und er verlebt einen interessanten Abend, vielleicht den interessantesten seines Lebens.

Wohnt man der Vorstellung eines Goetheschen Stückes bei, so äußere man dann und wann, Goethe sei eigentlich kein dramatischer Dichter. Dies macht Aufsehen und den Eindruck, man sei ein Kenner von großer Bildung. Zu motivieren braucht man den Ausspruch nicht, man sagt es gewissermaßen dienstlich.

Will man sich sehr lächerlich machen, so nenne man Kleists Hermannschlacht ein Schandstück, wie es der Bürgermeister Lueger gethan hat. Ich kann mir aber nicht denken, daß man sich sehr lächerlich machen will, abgesehen davon, daß es nicht hübsch ist, ein Plagiat zu begehen.

Ist man ein älterer Herr, so habe man jedes klassische Stück schon besser aufführen sehen. Jedem jungen Schauspieler stelle man einen längst der Geschichte angehörenden gegenüber. Den Hörer macht dies ganz hilflos, und man hat auf diese Weise doch etwas von dem Pech, älter als er zu sein.

Ist man ein Freund von beispiellos kritischem Blödsinn, so suche man nach einer Novität ein Café oder Bierhaus auf, wo Schauspieler und Theaterhabitus verkehren, und setze sich zu ihnen. Man wird ungemein befriedigt werden und gegen Morgen das Lokal mit Vergnügen verlassen.

Hat man in einer Erstaufführung einen Vorderplatz in der Loge, so überlasse man diesen galant einer Dame, die einen Platz im Hintergrund der Loge hat. Denn man kann dann bequemer flüchten, wenn das Stück allmählich unerträglich wird.

Eines Opernguckers bediene man sich nur, um an der Seite der Gattin eine andere Dame ansehen zu[82] können, so daß die Gattin es nicht merkt. Will man ganz sicher sein, so sage man, während man eine junge Schöne ansieht: Ei, da ist ja auch die alte Frau Meier.

Sitzt man in der Vorstellung eines klassischen Dramas neben einem Herren, der dieses Drama in einer Reclamschen Ausgabe nachliest, so freue man sich, wenn in ihm während des Abends nicht die Tobsucht ausbricht.

Sitzt man im Opernhause neben einem Herrn, der die bekannteren Melodieen mitsingt, so rede man ihn mit den höflichen Worten an: »Habe ich die Ehre, Herrn Scheidenmantel neben mir zu sehen?« Nutzt dies nichts, so singe man selber mit.

Was die Garderobe anbetrifft, so kann man den greulichen Zuständen, welche daselbst herrschen, nicht ausweichen. Hat man nicht Zeit zu warten, bis der Raum menschenleer ist, so rede man die Garderobefrauen, welche immer alt und verheiratet sind, mit: »Bitte, mein Fräulein!« an. Bleiben die Frauen ungerührt und wird man die Garderobenummer nicht an sie los, so verliere man endlich die Geduld und warte alles ruhig ab.

Für die


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 41906, Bd. I, S. 76-83.
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