Vorlesungen

[87] sind mit Konzerten nicht zusammen zu nennen, schon ihrer Seltenheit wegen. Während die Konzerte niemals nicht stattfinden, sondern derart fortwährend, daß die Nachbarhäuser der Konzertsäle entwertet werden und deren Bewohner über Ruhestörungen und Hausfriedensbrüche klagen, stößt man nur dann und wann auf eine Vorlesung. Die in der Umgebung der Konzertsäle Wohnenden haben zwar beschlossen, an den Tagen, an welchen kein Konzert stattfindet, ihre Häuser zu flaggen, aber seit einem Jahrzehnt hat sich zu dieser schönen Demonstration noch keine Gelegenheit gefunden, dagegen lassen sich die Vorlesungen einer Wintersaison an den Fingern abzählen, die man vielleicht hierzu nicht alle braucht.[87] Es liegt dies daran, daß wohl mehr als siebenachtel der Bewohner Deutschlands musikalisch zu sein lügen und wenigstens ein Instrument, und sei dies auch nur das Klavier, spielen oder in einer anderen künstlerischen Form toben, während die Litteratur nur ein im Vergleich mit dieser musikalischen Präsenzstärke kaum nennenswertes Kontingent mobil machen kann.

Die Vorlesung ist eine bescheidene Erscheinung und unterscheidet sich schon dadurch wesentlich vom Konzert, dessen ganzes Wesen der Radau ist, das mit Riesenlettern bombardiert und mit ellenlangen Plakaten um sich haut. Man ist also in der Lage, wenn man nicht in Vorlesungen geht, zu behaupten, daß man von ihrem Herannahen nichts gewußt habe.

Man versäume indes keine Vorlesung von Strakosch, welcher in Schaltjahren an 366 Abend vorliest. An jedem Abend trägt er aus Schillers Demetrius vor, und es ist doch interessant, dahinter zu kommen, wer es länger aushält: Strakosch oder Demetrius. Ich glaube Strakosch, kann mich aber auch nicht irren.

Es giebt zwei Arten von Vorlesungen. Sie werden entweder von dem ebengenannten Vortragsmeister und von Mitgliedern der Bühne, welche außer dem Hause arbeiten lassen, oder von Schriftstellern gehalten, welche ihre eigenen Arbeiten vortragen. Man ziehe die Vorlesungen der letzteren vor, weil diese natürlich mehr Gelegenheit, einen Tadel anzubringen, darbieten. Hört man schlecht, so tadelt man das Organ, hört man gut, die litterarische Arbeit.

Will man dem vorlesenden Schriftsteller nicht wohl, so braucht man nur an wichtigen Stellen zu niesen oder zu husten, um ihm die Wirkung zu verderben. Ist man ihm zugethan und erkältet, so bleibt man draußen. Dies macht wenig Mühe.

Ist man ein in den weitesten Kreisen bekannter und[88] geschätzter Schriftsteller, so bestrebe man sich, den Eindruck der größten Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit und Naivetät zu machen, besonders wenn man diese drei schönen Eigenschaften nicht besitzt. Man besitze sie auch nicht, weil das Publikum ja doch nicht an sie glaubt.

Trinkt man gern einen Cognac, so stelle man trotzdem ein Glas Wasser vor sich hin, mache aber keinen Gebrauch davon.

Ist man Vorleser und schläft ein Zuhörer ein, so bedauere man ihn, weil ihm ein großer Genuß verloren gehe. Keinesfalls schreibe man den Schlaf dem zu, was man vorträgt. Bei einem anderen Vorleser beneidet man den Schläfer und schiebt die Schuld dem Vorleser in die Schuhe.

Hat der Schriftsteller einen großen Teil seines Vortrages beendet, ohne daß ein Zeichen des Beifalls die nötige Ruhe unterbrach, so erkläre er in der Pause, er habe gewußt, daß das Publikum für sein Werk nicht reif sei, auch wenn das Publikum das gebildetste ist.

Bezahlt man für den Platz eine Mark, so rechne man: für die Unterhaltung zehn, für Wärme dreißig, für Beleuchtung zwanzig, als Beitrag zu den Kosten fünfzehn, zu viel bezahlt fünfundzwanzig Pfennig. Höchstens bringe man noch zehn Pfennig für den Anblick vieler Frauen und Mädchen in Anrechnung, sodaß dann noch fünfzehn Pfennig aus dem Fenster geworfen sind, wenn man die Garderobe nicht abgeben sondern mit in den Saal genommen hat.

Ist der Vorleser ein realistischer Schriftsteller und sagt unverblümt, was man in Gesellschaft nicht sagen darf, so haben die Damen Entrüstung zu äußern, namentlich wenn sie vorher wußten, daß dergleichen zu erwarten war.[89]

Auch für den Besuch von


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 41906, Bd. I, S. 87-90.
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