Reisetagebuch

Reisetagebuch,

[102] so giebt man Beweise von klassischer Bildung am bequemsten dadurch, daß man in den verschiedenen Städten sich der Stücke, die man gesehen hat, erinnert und daraus Betrachtungen herleitet. Etwa wie folgt:

In Verona: Mir war's, als hörte ich die Lerche und nicht die Nachtigall in dieser Stadt Amors singen, als ich durch die Straßen ging, und in jeder glaubte ich Romeo zu sehen, wie er hastig nach dem Klostergarten eilte, um mit Bruder Lorenzo zu sprechen.

In Venedig. Wie glücklich bin ich in dieser Stadt, obschon ich darin die elektrische Straßenbahn schmerzlich vermisse! Aber plauderte da nicht Shylock mit Tubal über das gute Geschäft, das er mit Antonio zu machen gedenkt, indem er für dreitausend Dukaten ein Pfund Fleisch bekommen wird? Ja, und dann machen die beiden vor Othello Front, der zu seiner Desdemona geht, bei der er Jassica und Porzia finden wird.

In Genua. Eben weilte ich an der Steile, wo Fiesko ins Wasser gestoßen wurde und den Tod fand. Vielleicht stand da auch einst Kolumbus und blickte über die Wasserfläche nach der Gegend, wo er Amerika[102] zu entdecken hoffte. Welch eine Fülle von Gedanken bestürmte meinen Geist!

In Madrid: Hier also ging einst die Sonne nicht unter. Nun, auch heute existiert hier noch kein rechtes Nachtleben, wie in Berlin. Das sagte ich eben – nachts 11 Uhr – als ich nach dem Hotel ging. Morgen wollen wir nach Aranjuez, obschon dort die schönen Tage nun zu Ende sind. Aber öfter noch als an den Karlos, der den genannten Ort nicht heiterer verließ, denke ich an den gleichnamigen Freund Clavigos, den Archivarius des Königs. Woran mag das wohl liegen?

Diese wenigen Sätze werden vielleicht genügen, um zu zeigen, wie lohnend die Bekanntschaft mit unserem klassischen Repertoir für ein Reisetagebuch zu verwenden ist.

Es ist jetzt nicht gut möglich, vom Sommer zu sprechen, ohne der


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 102-103.
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