Sommer-Schulferien

[98] beginnen. Vater und Mutter sind zwar von dem beschämenden Gefühl erfüllt, daß sie doch eigentlich die Sklaven ihrer Kleinen sind, deren Schulbesuch allein schon einen bestimmenden Einfluß auf ihre Entschlüsse ausübt, indem er sogar den Beginn und das Ende ihrer Erholungsreise regelt, aber der erste Ferientag giebt ihnen doch, wenn auch nur scheinbar, die Freiheit, so kurz sie sein mag, wieder zurück. Das die Schule besuchende Kind aber, welches in den Lehrern und der Schule Bedrücker und Gefängnis sieht und, so gut dies zu bewerkstelligen ist, auch befeindet, begrüßt den ersten Tag der Ferien als den der gelungenen Flucht in die Freiheit und Unabhängigkeit, ohne einen Augenblick daran zu denken, daß es nur an einem langem Faden fortflattert, dessen Festigkeit sich schmerzlich bemerkbar machen wird, wenn die aufgegebenen Aufgaben zu den Büchern und Heften drängen.

Vater und Mutter werden gutthun, ihre Kinder nicht merken zu lassen, wie sie sich unter deren Herrschaft[98] zu beugen gezwungen sind. Meist wissen sie es bereits, ihre Stellung mißbrauchend, auch könnten sie es dem Elternpaar übelnehmen, daß es die ihm obliegenden Pflichten nicht als eine ganz besondere Auszeichnung betrachtet.

Man erledige sich der Aufgabe, den Kindern die Sommerfrische, die man mit ihnen nun aufzusuchen bereit sei, näher zu bezeichnen, mit aller Vorsicht. Denn sie haben ihren eigenen Geschmack, könnten leicht mit der Wahl des Ortes unzufrieden sein und dadurch in die übelste Laune versetzt werden, welche für das Gelingen der Ferienfahrt von den schlimmsten Folgen begleitet sein könnte.

Weigern sich die Kinder, die Reise anzutreten, bis zur Bedingung, ein neues Reiseziel aufzustellen, so werde man nicht zornig, oder zeige dies wenigstens nicht, auch lasse man sich noch weniger zu energischen Maßregeln hinreißen, denn schließlich werden die Kinder denn doch nachgeben müssen und durch die Versicherung, niemals wieder ohne sie die Sommerfrische zu bestimmen, vollständig entwaffnet werden. Denn es mag zur Beruhigung aufgeregter Elterngemüter hier darauf hingewiesen sein, daß die Kinder doch im allgemeinen überaus nachsichtig den Fehlern ihrer Eltern gegenüberstehen und daß sie immer, wenn auch häufig ungern und zögernd, sich bereit finden lassen, anzuerkennen, daß die Eltern wegen ihrer Bemühungen, sich ihnen angenehm zu machen und selbst mit Opfern ihre Pflichten zu erfüllen, auf die Annahme mildernder Umstände Anspruch erheben dürfen.

Kann das Familienoberhaupt männlichen Geschlechts es durchsetzen, daß die übrigen Mitglieder der Familie allein reisen, so scheue es keine Mühe, auf das Vergnügen, mit ihnen zusammen sein zu können, zu seinem großen Bedauern verzichten zu müssen. Man wird bei der Gattin und den Kindern zwar auf einigen[99] Widerstand stoßen, welcher aber überraschend leicht überwunden werden wird, so beschämend dies erscheinen mag. Schließlich sind Gattin und Kinder leider durchaus nicht außer sich, einmal ohne ihr sogenanntes Oberhaupt einige Wochen lang existieren zu müssen, sondern freuen sich sogar, so heimlich wie möglich, genau so wie der Gatte und Vater, auf die Tage unbeschränkten Freiheitsgenusses.

Der Gatte und Vater sei zeitig vorbereitet, triftige Gründe für sein Daheimbleiben angeben zu können, damit er solche in fließender Form vorzubringen imstande sei und damit in der Gattin und Mutter kein Verdacht aufsteigen könne. Das letztere ist vor allem zu verhindern wichtig. Dringende Geschäfte allein überzeugen noch nicht, man muß auch Details anzugeben vorbereitet sein, um mit aller Bequemlichkeit und Würde in den Stand des Strohwitwertums eintreten zu können. Die Gattin ist selbstverständlich klug genug, nicht laut zu sagen, daß ihr Gatte immer eine gewisse Sehnsucht nach dem ledigen Zustand habe.

Schützt die Gattin die Unmöglichkeit vor, ohne den Gatten leben zu können, so ist der Gatte selbstverständlich klug genug, nicht laut zu sagen, daß seine Gattin immer eine gewisse Neigung an den Tag lege, eifersüchtig zu sein, oder dies zu verschiedenen Zwecken zu scheinen.

Erklärt ein Gatte, die Gattin nicht allein reisen lassen zu wollen, weil er ohne sie nicht leben könne, so sei er nicht so leichtsinnig, zu wetten, daß sie ihm das glaube.

Besteht eine Frau darauf, daß ihr Gatte mit ihr reise, weil sie ohne ihn nicht leben könne, so glaubt dies der Gatte, was der Gattin, wenn er nun wirklich mitreisen sollte, sehr unangenehm zu sein pflegt.

Man sieht hieraus, daß mit den Schulferien der Kinder die Schulzeit der Eltern beginnt, welche bis zum Schluß der Schulferien der Kinder dauert. Die[100] Eltern lernen während dieser Zeit sehr viel, wenn sie zu beobachten Talent haben. Der Gatte lernt die Gattin jetzt besser kennen, als in des Jahres Einerlei, und ebenso die Gattin den Gatten, ohne den sie schon der Sicherheit halber nicht reisen sollte, obschon diese Sicherheit, wenn er mitreist, nicht völlig vorhanden zu sein pflegt.

Wenn man Strohwitwer ist, so versäume man in keinem Brief an die Gattin, von der Sehnsucht nach ihr zu sprechen. Ist man einer der vielen Gatten, welche von der Naivetät ihrer Gattin fest überzeugt sind, so wird man ohne weiteres annehmen, daß sie an die Aufrichtigkeit dieser Sehnsucht glaubt. Dies wird aber nur bis zu dem Augenblick möglich sein, wo ihm verraten wird, was die Gattin eigentlich von seiner Sehnsucht denkt und wie sie lächelt, wenn sie die Schilderung dieser Sehnsucht vor Augen hat. Wer aber könnte es verraten?

Kehrt die Gattin mit den Kindern aus den Schulferien heim und ist ihr erstes Wort: Nie mehr reise ich mit den Kindern allein! so darf der Gatte mißtrauensvoll annehmen, daß sie sich sehr gut unterhalten habe und das Schlimmste unterschlage.

Dasselbe darf die Gattin annehmen, wenn ihr bei ihrer Rückkehr der Gatte versichert, daß er nie mehr während der Schulferien allein bleiben werde.

Wir kommen nun zu einem der schönsten Feste des ehelichen Lebens, ohne uns daran zu kehren, daß dies jedenfalls Geschmacksache sei. Dieses Fest ist:


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1902, Bd. III, S. 98-101.
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