der Prophet.

[101] Man denke hierbei nicht an die geschichtlichen oder biblischen Propheten, an die Blinden oder Hellseher, welche, mit einer höheren seelischen und geistigen Kraft begabt, in die Zukunft blickten und das Kommende voraussagen und voraussagten. Es kann nicht die Aufgabe des modernen Knigge sein, von solchen auserlesenen Erscheinungen der Menschheit zu sprechen, da sie der Geschichte angehören, ein persönlicher Verkehr mit ihnen jetzt also ausgeschlossen ist. Sie kommen heute nicht mehr vor, für das Orakel hat die Erde kein Delphi und für die Propheten kein Publikum mehr. Taucht irgendwo ein Prophet auf, so ist es ein falscher, dem der Krieg erklärt und bald das Handwerk gelegt wird. Prophezeit wird nur noch ohne polizeiliche Genehmigung aus den Linien der Hand, aus dem Kaffeegrund und aus Karten. Dies ist allerdings noch immer ein Geschäft mit guter Kundschaft, die sehr groß ist, weil sie aus Dummen und Dümmsten der Küchen und Salons besteht, aber der moderne Knigge würde sich zu diesen rechnen müssen, wenn er versuchen wollte oder versuchen würde, sie zu belehren. Unheil genug richten die Ausbeuter der Dummheit an, so lange die Dummen noch Geld aus dem Fenster zu werfen haben, und an solchem Geld wird es ihnen niemals fehlen, aber der moderne Knigge müßte mehr sein als einer jener Götter, welche mit der Dummheit vergebens kämpfen, und das ist er leider nicht, und so überläßt er denn die Dummheit auf dem Gebiet der Wahrsagerei ihrem Schicksal, vom gewissenlosen Schwindel geplündert zu werden.[101]

Der Prophet, von dem gesprochen werden soll, ist kein gewerbetreibender Ausbeuter und Betrüger. Er ist ein ganz harmloser, nur dann und wann lästiger Hellseher, der fortwährend in die Zukunft blickt und darin nur das sieht, was er vorausgesagt hat, nicht etwa das voraussagt, was er gesehen hat. Er muß immer prophezeien, und jedes Ereignis empfängt er mit der Frage: Nun, was habe ich gesagt? Auch wenn er von dem Ereignis vorher nicht mit einer Silbe gesprochen hat, empfängt er es mit derselben Frage.

Trifft man mit diesem Propheten zusammen, so klage man über nichts, wenn er sich nach dem Befinden erkundigt. Denn selbst die unscheinbarste Klage über Kopfweh genügt ihm, überall zu prophezeien, daß man bald sterben werde. Bleibt man dann leben, so ist ihm dies zwar nicht angenehm, aber man wird von ihm vernehmen, daß er zwar gehört habe, man sei ein Todeskandidat, daß er aber, wie er sehe, doch Recht behielte mit seiner Behauptung, man sei kerngesund und werde hundert Jahre alt werden.

Ist man mit ihm zu einer Erstaufführung ins Theater gegangen, so prophezeit er einen Durchfall. Der Autor sei ein Nichtskönner, habe keine Ahnung von der Bühne und sei überhaupt ein Pechvogel. Wird dann der Autor stürmisch hervorgerufen, so fragt der Prophet: »Nun, was habe ich gesagt? Das, was ich immer gesagt habe. In diesem Verfasser steckt was vom Grillparzer. Er kennt die Bühne, als sei er dort geboren.« Man traut seinen Ohren nicht, anstatt dem Propheten nicht zu trauen.

Hat man eine Liebe im Herzen mit dem tiefsten Geheimnis umgeben und verlobt sich dann, so hat der Prophet alles längst so kommen sehen, wie es gekommen ist. Er versichert auch, es jedem gesagt zu[102] haben, namentlich solchen, die es nicht wissen wollten, weil es sie nicht interessierte. Man versuche dann nicht, ihn zu überzeugen, daß er nichts habe ahnen, geschweige denn wissen können, denn man muß erwarten, daß er schließlich erklärt, er habe alles früher gewußt, als man selbst an eine Verlobung gedacht hat.

Man lasse sich mit ihm nie in ein politisches Gespräch ein, denn er weiß genau, was geschehen wird, und wußte seit dem Jahre 1870, was geschehen würde, ohne sich ein einziges Mal getäuscht zu haben. So hat er den Dreibund früher entstehen sehen, als der Gedanke an ihn in Bismarcks Geist entstanden war. Nur wenn man mehr Zeit und bessere Nerven als ein anderer Mensch hat, gestatte man sich das entsetzliche Vergnügen, mit ihm zu politisieren.

Man glaube nicht, daß man einen kurzweiligeren Menschen als diesen Propheten finden wird, wenn die Kurzweil darin bestehen soll, daß man einen drolligen Kauz zum Besten haben möchte. Man greife irgend eine Nachricht aus der Luft, man erzähle dem Propheten, daß ein Freund, der eben vortragender Rat im Finanzministerium geworden ist, mit Zurücklassung von vielen Schulden durchgebrannt sei. »Na, was habe ich Ihnen gesagt?« wird der Prophet fragen. Dann sage man ihm die Wahrheit. Nun wird er bitten, gefälligst zu warten, bis der vortragende Rat wegen leichtfertigen Schuldenmachens durchbrennen wird, denn was er prophezeite, bleibt prophezeit. Auch das, was er wie das Durchbrennen des vortragenden Rats nicht prophezeit hat, bleibt prophezeit.

Man kränke den unschädlichen Narren nicht, indem man ihn mit seiner Frage: »Na, was haben Sie mir gesagt?« bestürmt, wenn man ihm etwas[103] Neues erzählen will. Denn er hat immer nur das prophezeit, was man ihm erzählt hat.

Ist man sein Arzt und wird an sein Schmerzenslager, auf dem er erkältet liegt, gerufen, so wird man ängstlich von dem Kranken angesehen werden, da er sein Leiden nicht kennt. Er wird dann einen kummervollen Blick auf das Rezept werfen und ausrufen: »Na, was habe ich Ihnen gesagt? Ich sterbe an einem Herzleiden.« Man tröstet ihn dann, er sei nur erkältet, und bittet ihn, keine Dummheit zu reden. Dann wird er außer sich sein, denn er hat nach seiner Meinung zum erstenmal falsch in seinem Leben prophezeit.

Überlassen wir den Propheten seinem Arzt, der leider nur das körperliche, nicht das seelische und geistige Gebrechen kurieren kann. Für die Narrheiten der Menschen gibt es keine ärztliche Hilfe, keine Krankenhäuser, keine Heilanstalten, keine Bäder, keine Luftkurorte. Wir müssen sie ertragen, und uns ist so wenig zu helfen, wie ihnen, womit nicht gesagt sein soll, daß wir nicht auch an einer Narrheit kranken, unter welcher wir und andere leiden müssen.

Der moderne Knigge hat sich in seinem vierten Bande wieder mit Narren aller Art befaßt und muß zum Schluß bedauernd bemerken, daß es deren noch viele gibt, mit denen zu verkehren nicht leicht und vielleicht durch keinen Leitfaden zu erleichtern ist. Es gibt so viele geheime Narrheit, die sich auf den ersten Blick gar nicht als solche erkennen läßt und erst durch näheren Umgang erkannt wird, wie man etwa einem Regierungsrat nicht an der Nase ansehen kann, daß er Geheimer Regierungsrat sei. Zugegeben soll auch werden, daß der geheime Narr gefährlicher als der gewöhnliche Narr ist, weil dieser sich sofort als ein solcher verrät und daher leichter gemieden werden kann. Vielleicht macht sich der moderne Knigge einmal[104] an die Riesenarbeit, einen Leitfaden für den Verkehr mit den Geheimen aller Art, mit den geheimen Narren, Verbrechern, Schwindlern, Heuchlern, Lügnern und ähnlichen Feinden unseres Lebens und Eigentums zu ersinnen. Hierbei fällt ihm nun ein, daß in neuerer Zeit, welche sich so gerne die humane nennen läßt, eine menschliche Erscheinung aufgetaucht ist, oder richtiger, wieder aufgetaucht ist, welche vor langen Jahren, als noch die Gewalt auch am hellen Tage vor Recht ging, keine sehr ungewöhnliche war. Man hielt sie wenigstens in Europa für verschwunden, und sie erregte also um so größeres Entsetzen, als sie plötzlich wieder ihre Karte abgab, auf welcher zu lesen war:


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1903, Bd. IV, S. 101-105.
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