Journal

[74] Meine Reise zu Fuß von Braunau in Böhmen, über Bielitz durch Polen nach Merenitz, und von da über Thorn nach Elbing, von 169 Meilen, ohne zu betteln noch zu stehlen.


Den 18. Januar 1747 gingen wir von Braunau über Politz bis Nachod 3 Meilen. Die Kasse bestand in 3 Florin, 45 Kreuzer.


Den 19. nach Neustädtl. Hier vertauschte Schell seine Uniform gegen einen grauen Handwerksburschenrock und erhielt von einem Juden noch 2 Florin, 15 Kreuzer heraus. Von da kamen wir nach Reichenau, in allem 3 Meilen.


Den 20. auf Leutomischel 5 Meilen, wo ich ein warmes Brot, das erst aus dem Ofen kam, begierig aß und beinahe an Magenkrampf gestorben wäre. Wir mußten hier einen Tag liegen bleiben, und der Wirt ließ uns durch eine gottlose Rechnung wenig Geld übrig.


Den 22. über Tribau nach Zwittau in Mähren, 4 Meilen.


Den 23. bis Sternberg, 6 Meilen. – Dieser Marsch war dem armen Schell wegen seines noch schwachen Fußes zu viel, – dennoch mußte er am folgenden Tag,


Den 24. bis nach Leipnick, 4 Meilen, im tiefen Schnee und mit leerem Magen aushalten. Hier verkaufte ich meine Halsschnalle um 4 fl.


Den 25. bis nach Freiberg über Weiskirch nach Drachornsch, 5 Meilen. Auf diesem Wege fanden wir früh morgens eine Violine mit Futteral, die jemand verloren hatte. Der Wirt in Weiskirch gab uns 2 fl. dafür und versprach, sie dem, der sich melden würde, zurückzugeben, weil sie wohl 20 fl. wert war.


Den 26. nach Frideck in Oberschlesien, 2 Meilen.
[75]

Den 27. auf ein hannakisch Dorf, 41/2 Meile, und


Den 28. über Scotscha nach Bielitz, 3 Meilen.


Da dieses die Grenzstadt zwischen Polen und den österreichischen Staaten ist, so forderte uns der daselbst in Garnison liegende Hauptmann Capi vom Marschall'schen Regiment den Paß ab. Wir hatten in den Pässen andere Namen und waren gemeine preußische Deserteure. Ein aus Glatz desertierter Tambour kannte uns aber und sagte es dem Hauptmann. Dieser Dummkopf und grobe Menschenfeind ließ uns sogleich arrestieren und uns mit despotischer Verweigerung jedes Gehörs nach Teschen zurück –, und dazu noch zu Fuß mit Verachtung führen. Dieses betrug 4 Meilen.

Dort kamen wir zum Obristlieutenant Baron Schwarzer, der ein rechtschaffener Mann war, uns bedauerte und das grobe Verfahren des Hauptmanns Capi, bei so sonnenklarer Rechtfertigung, tadelte.

Ich erzählte ihm mein ganzes Schicksal offenherzig. Er tat alles, um mich von der polnischen Reise abzuhalten, und redete mir den Weg nach Wien ein. Umsonst, mein guter Genius hielt mich damals noch von Wien zurück, und wollte Gott! daß ich mich ewig davon ferngehalten hätte. Wie manche Drangsale würde ich weniger erlitten haben, und wie glücklich wäre ich den mächtigen Buhlern nach Trenck'schen Gütern ausgewichen, die mich verfolgten und mich bisher dem Staate unbrauchbar machten.

Ich kehrte also nach Bielitz zurück, abermals 4 Meilen. Schwarzer gab uns bis dahin seine eigenen Pferde und 4 Dukaten auf den Weg, die ich ihm dankbar in der Folge bezahlt habe und ewig nicht vergessen werde, weil sie mir ein Paar neue Stiefel beschafften.

Indessen war mein ganzes Blut gegen den Capi empört. Wir gingen sogleich durch Bielitz nach Biala, auf die polnische Grenze zu. Von da schickte ich ihm ein Kartell und forderte ihn auf Degen oder Pistolen, erhielt aber keine Antwort. Er erschien nicht und bleibt in meinen Augen ein Schurke in Ewigkeit.

Was nutzen Ehrgeiz, Wissen, Tugend und Tapferkeit, wenn[76] das Nötigste fehlt, um in Gesellschaft unter unseresgleichen mit erhobener Stirn aufzutreten!

Ich war in meinen ersten Lebensjahren allezeit unter den Größten; die größten Männer bildeten mein Herz und waren mein Umgang. Am Hofe des großen Friedrich rechnete man mich zu den Lieblingen – und auf einmal stand ich in einem fremden Lande, ungekannt, ungeachtet, verächtlich da und mußte bei großer Kälte, Mangel, Hunger und schweren Schritten zu Fuß alles mögliche Ungemach des Leibes und der Seele ertragen, mich von da entfernen, wohin das Herz schmachtete, und vorwärts in die Welt gehen, ohne eigentlich zu wissen, wohin?

Zu stolz war ich, um mich irgend jemandem anzuvertrauen. Mein Name hätte mir vielleicht genutzt; aber eben in Österreich, wo dieser Name bekannt war, wollte ich nicht bleiben, kein Glück suchen und jede Gelegenheit meiden, die den Argwohn der Untreue gegen mein Vaterland vermehren konnte. Und mein treuer Freund Schell, dem alles, auch Hunger oder Überfluß, Ehre oder Schande gleichgültig waren, tat alles, was ich wollte.


Den 1. Februar gingen wir von Biala 4 Meilen nach Oswinzin, weil ich beschlossen hatte, Zuflucht bei meiner Schwester zu suchen, welche den Herrn von Waldow geheiratet hatte und zu Hammer im Brandenburgischen, zwischen Landsberg an der Warte und Meseritz an der polnischen Grenze auf ihren Gütern im Wohlstande lebte. Deshalb ging unser Weg neben der schlesischen Grenze auf Meseritz zu.


Den 2. nach Bobrek und Elkusch, 5 Meilen. Auf diesem Wege, wo wir viel vom tiefen Schnee in unserer leichten Kleidung auszustehen hatten, verlor Schell aus Nachlässigkeit unsere noch aus 9 fl. bestehende Kasse; mir aber blieben noch 19 Groschen.


Den 3. nach Crumelew 3 und den 4. nach Wladowiegud Joreck abermals 3 Meilen. Von da den 5. nach Czenstochowa, wo das berühmte reiche Kloster prangt, von welchem ich recht viel Merkwürdiges zur Schmach seiner Bewohner bekanntzumachen hätte, was aber mein Raum nicht gestattet.
[77]

Wir kehrten am Fuß des Klosterberges im Wirtshause bei einem wahren Biedermanne namens Lazar ein. Dieser hatte als Lieutenant in kaiserlichen Diensten gestanden, viele Schicksale erlitten und war endlich ein armer Gastwirt in Polen. Wir hatten in unserer Kasse keinen Kreuzer und forderten trockenes Brot. Der rechtschaffene Mann ließ uns dennoch an seinem Tische essen. Ich vertraute ihm die reine Wahrheit unserer Umstände an, auch die Absicht dieser Reise. Kaum hatten wir gegessen, so kehrte ein Wagen ein, und drei Herren, die Kaufleuten ähnlich sahen, kamen in das Zimmer. Sie hatten eigene Pferde, einen Bedienten und einen Kutscher.

Diese Geschichte ist merkwürdig für den Leser; ich muß sie folglich so kurz wie möglich, umständlich vortragen. Diesen Wagen hatten wir schon in Elkusch angetroffen. Einer der Herren hatte den Schell gefragt, wohin unsere Reise ginge; er hatte ihm Czenstochowa genannt. Wir waren aber ohne jeden Argwohn bei einem Vorfall, der uns doch alles mögliche Unglück bescheren sollte.

Die Herren blieben über Nacht in unserem Wirtshause, sahen uns ganz gleichgültig an und sprachen wenig. Wir gingen schlafen.

In der Nacht weckte uns aber der rechtschaffene Wirt und erzählte mit Erstaunen: Diese Herren wären verkleidete, uns nachgeschickte Preußen und hätten gegen ein ihm angetragenes Geschenk von 50, dann gar von 100 Dukaten von ihm die Einwilligung verlangt, uns in seinem Hause zu überfallen, zu binden und nach Schlesien zu führen. Er hatte es aber standhaft und großmütig verweigert, obgleich ihm noch überdies eine große Belohnung versprochen wurde, – dann aber heilige Verschwiegenheit gegen uns versprechen müssen, wofür man ihm 6 Dukaten in die Hand drückte.

Hieraus sahen wir deutlich, daß es Offiziere und Unteroffiziere waren, welche uns der General Fouqué auf dem Fuße nachgeschickt hatte. Wir dachten nach, wer das Geheimnis unserer Reise verraten haben könnte und fanden, daß es kein anderer als ein gewisser Lieutenant von Mollinie gewesen sein konnte, welcher uns in Braunau, als ein Freund von Schell, aus der Garnison zu Habelschwerdt besuchte, zwei Tage bei uns blieb[78] und besonders nach dem Wege forschte, auf welchem wir Zuflucht suchten. Er allein wußte es, folglich war er der Kundschafter des Fouqué.

In der ersten Erregung wollte ich sogleich mit dem Gewehr in der Faust in das Zimmer der Verräter einbrechen, Lazar und Schell hielten mich aber zurück; und der erstere trug mir sogar an, so lange bei ihm zu bleiben, bis ich Geld von meiner Mutter erhalten könnte, um weniger Gefahr und Ungemach zu dulden. Nichts half – ich hatte einmal beschlossen, sie selbst zu sprechen. Überdem war ich nicht gewiß, was mein Brief allein für Wirkung haben würde. Lazar versicherte, wir würden durch diese Herren gewiß angegriffen werden, und sollte es auch auf der Straße geschehen.

Desto besser! sagte ich. So habe ich Gelegenheit, sie in die andere Welt zu schicken und Straßenräuber zu bestrafen!

Früh mit Anbruch des Tages fuhren diese feinen Herren fort und nahmen den Weg nach Warschau.

Wir wollten auch gehen, doch Lazar hielt uns zwei Tage fast mit Gewalt auf und gab uns die von den Preußen erhaltenen 6 Dukaten. Wir kauften uns jeder ein Hemd, auch ein Paar Taschenpistolen, Strümpfe und Wegzehrung und gingen nach Umarmung des redlichen Wirtes, der uns die besten Lehren zur Vorsicht auf diesem Wege gab.


Den 6. Februar von Czenstochowa nach Dankow, 2 Meilen. Unsere Vorbereitungen hatten wir auf alle Fälle für einen Angriff auf der Straße getroffen. Wir wußten durch Lazar, daß unsere Verfolger nur eine Flinte im Wagen hatten. Ich besaß auch eine Flinte, einen guten Säbel und jeder von uns ein Paar Pistolen unter dem Rock. Dieses verborgene Gewehr war ihnen unbekannt und bei dem erfolgten Angriff sicher die Ursache ihrer Bestürzung.

Den 7. gingen wir den Weg nach Parsemechi. Kaum waren wir aber eine Stunde gegangen, so sahen wir von weitem einen Wagen auf der Straße. Wir kamen näher und erkannten den Wagen unserer Verfolger, der im Schnee zu stecken schien, und die Herren alle herum.

Sobald wir uns näherten, riefen sie um Hilfe. Der Anschlag[79] muß darin bestanden haben, uns heranzulocken. Schell war ein schwacher Mensch, mir hingegen wäre man in die Arme gefallen und hätte uns so leicht in den Wagen geworfen; denn der Zweck war, uns lebendig zu fangen.

Sogleich verließen wir die Straße und gingen etwa 30 Schritte seitwärts vorbei, mit der Antwort:

Wir haben keine Zeit, euch zu helfen, ihr Herren!

Gleich sprangen sie alle vier nach dem Wagen, rissen Pistolen heraus und liefen uns auf den Leib, mit Geschrei:

Halt! Steht! Spitzbuben!

Wir begannen, unserer Verabredung gemäß, zu laufen. Auf einmal wandte ich mich kurz um und schoß den ersten, der mir ganze nahe kam, mit der Flinte ins Herz. Er fiel; Schell gab Pistolenfeuer. Ein paar Schüsse wurden von den letzten auf uns abgefeuert, wodurch Schell einen Streifschuß am Halse abbekam. Ich griff den anderen an, schoß mit beiden Pistolen – er lief davon – ich verfolgte ihn in der Wut auf 300 Schritte, holte ihn ein, und da er sich mit dem Degen in der Faust umwandte, sah ich, daß er voll Blut war, fand wenig Gegenwehr und hieb ihn nieder. Gleich wandte ich mich zurück und sah den Schell in der Gewalt der beiden anderen, die ihn nach dem Wagen schleppten.

Rasend stürzte ich auf sie los. Kaum erblickten sie mich, da ich ihnen schon fast am Leibe war, so liefen beide in das Feld. Der Kutscher sah das Scharmützel, schwang sich auf den Wagen und fuhr davon.

Schell war also gerettet, hatte aber einen Streifschuß am Halse und einen Hieb in die rechte Hand erhalten, wodurch er den Degen verlor, mir aber versicherte, daß einer seiner Gegner einen Stoß in den Leib davongetragen habe.

Was war nunmehr zu tun?

Der erste, welcher auf der Wahlstatt lag, hatte eine silberne Uhr bei sich; diese riß ich heraus, wollte Geld suchen, – Schell rief mir aber etwas zu und zeigte mir einen Wagen, der mit 6 Pferden von der Höhe herunter kam. Sollten wir ihn abwarten? Und vielleicht gar als Straßenräuber arrestiert werden? Die zwei Entsprungenen hätten gewiß gegen uns gezeugt.

Ich erhaschte noch die Flinte des ersten Toten und seinen Hut;[80] damit eilten wir zu dem nahen Gesträuch und von da dem Walde zu, nahmen einen Umweg mit tausend Sorgen und kamen abends nach Parsemechi.

Schell hatte viel Blut verloren; ich verband ihn, so gut ich konnte. In polnischen Dörfern ist kein Feldscher; es wurde ihm also sehr hart, das Städtchen zu erreichen. Hier fanden wir nun zwei sächsische Unteroffiziere, die für die Garde in Dresden auf Werbung standen. Mein Größe von sechs Schuh und meine Person fielen ihnen in die Augen; gleich wurde Bekanntschaft und Antrag gemacht. Ich fand in beiden vernünftige Leute, – vertraute ihnen also ohne Rückhalt an, wer wir waren, auch unsere Geschichte mit den straßenräuberischen Preußen, und fand in ihnen redliche Männer. Schell wurde verbunden, und wir blieben sieben Tage mit diesen guten Sachsen in vertrauter Gesellschaft.

In der Folge habe ich erfahren, daß von denen, die uns angriffen, nur einer nebst dem Kutscher lebendig nach Glatz zurückgekommen ist. Der Offizier, der sich zu solcher Schandtat brauchen ließ, hieß Gersdorft, und soll 150 Dukaten bei sich getragen haben, da man ihn tot wegtrug. Welche herrliche und gerechte Beute wären diese für unsere Wegzehrung gewesen, wenn der verfluchte Wagen mit 6 Pferden uns nicht von der Walstatt vertrieben hätte!

Das Glück war dem Gerechten diesmal wieder nicht günstig. Ich war der verräterisch Angegriffene und mußte wie ein Straßenräuber davonlaufen. Die erbeutete Uhr verkauften wir einem Juden um 4 Dukaten, den Hut um fünf oder ungefähr 31/2 fl. und die Flinte, weil der Schell keine tragen konnte, um einen Dukaten. Das meiste Geld blieb in Parsemechi. Der Chirurgus, ein Jude, gab uns teure Pflaster auf den Weg mit, und wir gingen


Den 15. Februar über Bielun nach Biala, 4 Meilen.


Den 16. über Jerischow auf Micorsen, 41/2 Meile.


Den 17. auf Osterkow und Schwarzwald, 3 Meilen.
[81]

Den 18. nach Sdune, 4 und


Den 19. 2 Meilen nach Goblin.


Hier hatten wir kein Geld, kein Brot. Ich verkaufte einem Juden meinen Rock und erhielt einen grauen Kittel dafür, nebst 4 fl. bares Geld. Da wir uns dem vorgenommenen Ziel, meiner Schwester, näherten, legte ich auf meinen Rock keinen Wert, in der Hoffnung, bald neu equipiert zu sein.

Schell aber wurde täglich elender. Seine Wunden heilten langsam und kosteten überall Geld. Die Kälte war ihm auch schädlich, und weil er ohnedem kein Liebhaber der Reinlichkeit war, so blieb sein Leib eine wirkliche fruchtbare Pflanzschule aller möglichen Gattungen polnischer Läuse. Oft kamen wir naß und müde in die Rauchstuben, mußten die ganze Reise hindurch in eben den Kleidern auf dem Stroh, öfters auch auf der Bank liegen. Man kann sich folglich kaum denken, was für Ungemach und Elend wir ausstehen mußten. Im Winter durch das unwegsame Polen herumirren, wo Menschenliebe nicht einmal dem Namen nach bekannt ist, wo nur unbarmherzige Juden dem armen Reisenden das Nachtlager weigern, und dabei Mangel an Brot, an Erquickung und Kleidung leiden – dies sind Beschwerden, die sich nur der in vollem Gewicht denken kann, der sie wirklich gespürt hat. –

Meine Flinte verschaffte uns dann und wann einen Braten, auch einigemale zahme Gänse und Hühner, wo etwas zu erhaschen war; sonst haben wir nichts gestohlen. Hin und wieder fanden wir sächsische oder preußische Werber. Alles lief mir nach, weil ich bei 6 Fuß groß und in blühender Jugend war. Dieses verursachte mir manchen Zeitvertreib, wenn mir ein Werber das Glück vorstellte, ich könne dereinst noch ein Korporal werden, oder wenn sie alles taten, um mich zu berauschen und mit Met, Bier oder Branntwein herausrückten. Indessen hatten wir hierdurch manche Gefahr auf der Straße zu befürchten, aber auch manche gute Mahlzeit umsonst.


Den 21. gingen wir von Goblin 31/4 Meile nach Pugnitz.
[82]

Den 22. 4 Meilen durch Storchnest nach Schmiegel.

Hier traf mich ein wunderbares Los. Die Bauern tanzten bei einer elenden Violine; ich nahm sie dem Fiedler aus der Hand und geigte ihnen einen Tanz vor – dies gefiel; da ich aber aufhören wollte, wurde ich gewaltsam, und zuletzt gar mit Drohungen gezwungen, ihnen die ganze Nacht bis zum hellen Tage vorzugeigen, so daß ich aus Müdigkeit fast ohnmächtig wurde. Endlich kam es unter ihnen zu Schlägereien. Schell schlief auf der Bank; sie fielen ihm auf die blessierte Hand, er fuhr rasend auf; ich griff im Zorn zum Gewehr, und da alles durcheinander lag, eilten wir beide zur Tür hinaus und kamen ohne Schläge davon.

Was hatte ich in dieser Nacht für Gelegenheit, Betrachtungen über mein Schicksal anzustellen! Noch vor zwei Jahren tanzte ich in Berlin mit den Prinzessinnen und Schwestern eines Monarchen und jetzt saß ich in einer polnischen Hütte als Musikant für nackte, und dazu noch für polnisch nackte Bauern, mit denen ich mich zuletzt noch herumschlagen mußte.

War ich nicht selbst schuld an diesem Auftritt?

Warum wollte ich den Bauern zeigen, daß ich etwas von der Musik verstand? Ohne diesen Ehrgeiz hätte ich ruhig schlafen können. Und wenn ich überhaupt in meiner ganzen Lebensgeschichte nicht hätte zeigen wollen, daß ich mehr als viele andere Menschen gelernt habe, würde ich wohl ein Opfer des Neides und der Verleumdung geworden sein? Oder wäre ich mit einem unbedeutenden oder mangelhaften Körper geboren, man hätte mich weniger beobachtet, weniger hervorgesucht, folglich würden mir weniger Abenteuer, weniger Gelegenheiten zu Weltvorfällen begegnet sein.


Weil der Bär schön tanzen kann,

Muß er in den Fesseln sterben:

So dient dem geschickten Mann

Sein Verdienst oft zum Verderben.


Wie mancher Widerwärtigkeit wäre ich in der Welt ausgewichen, wenn mich Ehrgeiz, Begierde, zu gefallen, und Vorwitz nicht gereizt hätten! Hingegen habe ich mich aber auch aus[83] Schlingen zu befreien gewußt, in welchem tausend andere hilflos gefesselt bleiben.

Nun ging den 23. Februar die Reise von Schmiegel weiter fort auf Rakonitz und von da nach Karger Holland, 41/2 Meile. Hier verkauften wir ein Hemd, und Schell sein Kamisol um 18 Groschen oder 9 Schostack, um nicht zu verhungern. Tags zuvor schoß ich ein Haselhuhn, welches wir aus Hunger roh verzehrten; und weil es gut schmeckte, folgte eine Krähe darauf, wobei Schell aber nicht anbeißen wollte. Junge Leute, die stark gehen müssen, fressen viel; folglich waren unsere Groschen geschwind verzehrt.


Den 24. Februar kamen wir über Benzen nach Lettel, 4 Meilen, wo wir uns einen Tag aufhielten, um uns in das Brandenburgische nach Hammer zu meiner Schwester zu wagen. Wir fanden ein preußisches Soldatenweib, die in Lettel wohnte und eine Untertanin meines Schwagers aus dem Dorfe Kölschen war. Dieser vertraute ich mich in der Not ohne Mißtrauen an, und sie führte uns


Den 26. Februar nach Kurschen und Falkenwalde,


Den 27. aber durch Neuendorf über Ost, und dann durch einen unwegsamen Wald 51/2 Meile in das Brandenburgische nach Hammer zu meiner geliebten Schwester, wo wir abends um 9 Uhr an der Tür klopften.

Ein Mädchen machte auf, und just war diese eine Bekannte, die Maria hieß und in unserem Hause aufgewachsen war. Sie erschrak, einen baumstarken Kerl in Bettlerkleidung vor sich zu sehen. Ich redete sie aber gleich an:

Mitsche, kennst du mich nicht?

Sie sagte: Nein, – ich gab mich zu erkennen, fragte, ob mein Schwager zu Hause sei?

Ja, aber er ist krank im Bett.

Sage meiner Schwester heimlich, daß ich hier bin!

Sie führte mich in ein Seitenzimmer, und gleich war meine Schwester bei uns.

Sie erschrak über meinen Aufzug und wußte noch nicht einmal,[84] daß ich aus Glatz entflohen war; sie eilte zu ihrem Manne – – und kam nicht zurück.

Nach einer Viertelstunde kam die ehrliche Maria zu uns, weinte und sagte, – der gnädige Herr ließe uns sagen, wir sollten sogleich das Haus verlassen, sonst wäre er gezwungen, uns zu arrestieren und auszuliefern!

Meine Schwester aber sah ich nicht wieder; ihr Mann hielt sie mit Gewalt zurück.


Nun urteile man, was ich in diesem Augenblick empfand. Ich war zu stolz, zu aufgebracht, um Geldhilfe zu fordern und eilte wie ein rasender Mensch unter tausend Drohungen aus dem Hause. Das gute mitleidige Mädchen drückte mir weinend drei Dukaten in die Hand; – und so waren wir hungrig, müde, matt und verzweifelt wieder in dem Walde, welcher nicht hundert Schritte vom Schloß entfernt war. Wir durften in kein Haus gehen, weil wir im Brandenburgischen waren, und mußten in dunkler Nacht bei Regen und Schnee herumsteigen, bis uns unsere Führerin gegen Anbruch des Tages erst wieder nach Lettel brachte. Sie weinte selbst über unser Schicksal; für ihre Mühe und ausgestandene Gefahr erhielt sie von mir nur zwei Dukaten. Ich vertröstete sie auf die Zukunft; – ließ sie auch im Jahr 1751 zu mir nach Wien kommen und habe sie gut gepflegt und versorgt. Sie war etwa 50 Jahre alt und starb bei mir in Ungarn einige Wochen, bevor ich die unglückliche Reise nach Danzig antrat, wo ich in die zehnjährige Magdeburger Gefangenschaft geriet ...


Kaum waren wir aber vor dem Schlosse meiner Schwester im elendesten Zustande im Walde, so sagte ich im ersten Eifer zu Schell:

Bruder! Verdient eine solche Schwester nicht, daß ich ihr das Haus über dem Kopf anstecke?

Er aber anwortete mir:

Freund! Deine Schwester kann unschuldig sein; ihr Mann wird sie zurückgehalten haben. Denk nach! Wenn der König erführe, daß wir in seinem Hause gewesen wären, und daß er uns durchgeholfen hätte, so wäre ja deine Schwester ebenso unglücklich[85] wie du. Faß dich! Denk größer! Und handeln sie unrecht, so kommt vielleicht eine Zeit, da ihre Kinder noch deiner Hilfe bedürfen und du ihnen Böses mit Gutem vergelten kannst. Welche Freude fühlt hierbei nicht eine gutartige Seele?

Ewig denke ich an diesen treuen Rat; es war eine wirkliche Weissagung. Mein reicher Schwager starb bald darauf; im russischen Kriege wurden meiner Schwester Güter alle in einen Steinhaufen verwandelt, und nach meiner Befreiung aus Magdeburg, also 19 Jahre nach diesem Vorfall, ereignete es sich wirklich, daß ich den Kindern eben dieser Schwester habe Dienste leisten können.


Nun weiter zum Tagebuch dieser unglücklichen Reise. Ich mußte nunmehr meinen Entwurf ändern, weil ich keine Hilfe am ersten Zufluchtsort fand, und entschloß mich, zu meiner Mutter nach Preußen zu fliehen, die 9 Meilen hinter Königsberg auf ihrem Gut lebte.


Den 28. blieben wir ermüdet und bestürzt in Lettel.


Den 1. März gingen wir 3 Meilen bis Pleese, und von da den 2. März nach Meseritz, 11/2 Meile.


Den 3. über Wersebaum nach Birnbaum, 3 Meilen.


Den 4. aber bis nach Zirke, Wruneck, Obestschow bis Stubnitz, folglich 7 Meilen in einem Tage, wovon wir 3 Meilen zu fahren Gelegenheit fanden.


Den 5. kamen wir 3 Meilen bis Rogosen, hatten keinen Heller, um das Nachtquartier zu bezahlen. Der Jude trieb uns hinaus, und wir gingen die Nacht hindurch mit wütendem Hunger irrend herum, so daß wir bei Anbruch des Tages uns 2 Meilen außerhalb der Straße fanden.

Wir gingen in ein Bauernhaus, wo ein altes Weib eben Brot aus dem Ofen zog. Bezahlen konnten wir keins; und eben in diesem Augenblick empfand ich wirklich, daß es möglich sei, eine Mordtat um eines Stückes Brot willen zu begehen. Bei dem[86] Gedanken, wovor ich zurückschauderte, gingen wir eilig zur Tür hinaus und noch zwei Stunden weiter, bis nach Wongrofze. Hier verkaufte ich in äußerster Not meine Flinte, die uns manchen Braten verschafft hatte, um einen Dukaten. Wir aßen uns satt, nachdem wir 40 Stunden keinen Bissen genossen und ohne Schlaf gegen 10 Meilen in Kot und Schnee herumgestiegen waren, rasteten den 6. daselbst und kamen den 7. durch Genin zu einem Dorf, 4 Meilen im Walde.


Hier gerieten wir unter eine Bande von Zigeunern, die an die 400 Mann stark war, und die mich mit in ihr Lager schleppten. Die meisten von ihnen waren preußische und französische Deserteure. Man sah mich als ihresgleichen an; ich sollte bei ihnen bleiben. Nachdem ich aber mit ihrem Anführer aufrichtig gesprochen hatte, schenkte er mir noch einen Laubtaler, gab uns Fleisch und Brot und ließ uns in Frieden weiterziehen, nachdem wir an die 24 Stunden in ihrer Gesellschaft zugebracht hatten.


Den 9. gingen wir bis Lapuschin, 31/2 Meile, und den 10. 4 Meilen bis Thorn.


Es war eben Jahrmarkt in Thorn, da wir durch die Stadt gingen. Man stelle sich einen jungen baumstarken Menschen von meiner Größe vor, in elender Kleidung, mit einem großen Pallasch an der Seite, mit ein Paar Pistolen im Gürtel, und begleitet von einem Kameraden, welcher Hals und Hand verbunden hat und mehr einem Gespenst als einem lebenden Menschen ähnlich sieht, gleichfalls mit Pistolen im Gürtel.

Wir gingen in ein Wirtshaus, wo man uns nicht einmal aufnehmen wollte. Ich erkundigte mich nach dem Jesuitenkollegium, ging hinein und verlangte den Pater Rector zu sprechen. Anfangs sah man mich für einen Dieb an, welcher Freistatt sucht; nach langem Warten und ernsthaftem Gebaren erschien ich endlich vor Seiner Jesuitenmajestät, der mich wie ein Mogul seinen Sklaven empfing. Mein Vortrag war gewiß rührend; ich erzählte ihm mein ganzes Schicksal, auch die Absicht dieser Reise, und bat, er möchte meinen Retter, den Schell, welcher nicht mehr[87] weiter gehen konnte, und dessen Wunden bei solchem Elend nicht heilen wollten, indessen versorgen, und in Thorn behalten, bis ich den Weg zu meiner Mutter gefunden, Hilfe geholt hätte und ihn mit dankbarer Zahlung aller Unkosten wieder in Thorn abholen könnte.

Ewig denke ich mit Schmach und Verachtung an diesen hochmütigen, unempfindlichen Pfaffen. Er wollte meinen Vortrag nicht einmal mit Geduld anhören, hieß mich Er und sagte mir öfters:

Mach Er's kurz, ich habe notwendigere Geschäfte!

Kurz gesagt, ich wurde ohne jede Hilfe abgewiesen und habe die Großmut der gepriesenen Jesuiten durch Erfahrung kennengelernt. Gott tröste den ehrlichen Mann, welcher im Unglück ihres Beistandes bedarf!

Spitzbuben und Mörder finden bei ihnen alles – um ihre Macht gegen die Landesgesetze bei dem Pöbel und liederlichen Gesindel zu vergöttern und geltend zu machen. Der bedrängte und tugendsame Bedürftige flieht aber vergebens zu ihnen.

Nun weiter zum Zusammenhange.


Ich ging traurig und aufgebracht aus diesem Jesuitenkloster in mein Gasthaus zurück; dort fand ich einen preußischen Werbeoffizier, der auf mich wartete und mich mit allen möglichen Künsten als Rekrut haben wollte. Er trug mir sogar 500 Taler Handgeld und den Korporalstock an, falls ich schreiben gelernt hätte. Ich gab mich als geborener Livländer aus, welcher aus österreichischen Ländern desertiert sei, um nach Hause zu gehen und eine Erbschaft anzutreten. Nach langen Überredungen kam er endlich mit dem Geheimnis hervor, – ich sei ja ein Dieb und würde in wenigen Augenblicken vom Magistrat arrestiert werden. Sobald ich aber sein Rekrut wäre, könnte mich niemand mehr strafen.

Diese Sprache verstand ich gar nicht; – in diesem Augenblick war ich der Trenck, gab ihm eine Ohrfeige und zog den Säbel. Statt einer Gegenwehr lief er aber zur Tür hinaus und befahl dem Wirt, mich nicht herauszulassen. Weil ich nun wußte, daß die Stadt Thorn Kartell hatte und dem König in Preußen Deserteure heimlich auslieferte, wurde mir bange. Ich stellte mich[88] ans Fenster und sah gleich darauf zwei preußische Unteroffiziere in das Haus treten; – im Augenblick waren Pistole und Säbel in der Hand, Schell folgte, und wir begegneten den Preußen in der Zimmertür. Ich rief mit gespannter Pistole: – Platz! – die Preußen erschraken, zogen die Säbel und sprangen zurück. Vor der Tür rückte gerade der preußische Lieutenant, von der Stadtwache begleitet, heran. Ich fand überall Raum; Pistole in der einen, Säbel in der anderen Faust schreckten jeden zurück. Alles schrie: Dieb! Dieb! Halt auf!

Der Pöbel lief nach, ich kam aber glücklich in das Jesuitenkloster. Mein Freund Schell wurde übermannt, gefangen und als ein Dieb und Räuber in das Stadtgefängnis geschleppt.

Ich war fast außer Fassung, weil ich ihn nicht retten konnte und bildete mir schon ein, man würde ihn ausliefern. Im Jesuitenkloster wurde ich jetzt weit besser empfangen als das erste Mal, weil man mich wirklich für einen Räuber hielt, der Schutz suchte. Ich sprach sogleich mit einem Pater, welcher ein freundlicher Mann war, sagte ihm in Kürze alles, was mich rechtfertigte, und bat, mir nur die Ursache dieser Arrestierung zu entdecken. Er ging fort, kam nach einer Stunde zurück und brachte mir die Antwort:

Daß uns niemand kenne, wer wir wären; es sei aber tags zuvor ein großer Diebstahl durch gewaltsamen Einbruch in die Kaufmannsläden auf dem Jahrmarkt geschehen. Man arrestiere alle verdächtigen Leute; wir wären in der Stadt in solcher Gestalt mit Pistolen im Gürtel gesehen worden. Der Wirt, wo wir eingekehrt waren, sei ein preußischer Werber und habe uns als verdächtige Leute denunziert. Der preußische Lieutenant sei mit Klagen dazugekommen – deshalb allein sei unsere Arrestierung beschlossen worden.

Wer war froher als ich? Unseren mährischen Paß und unser Reise-Diarium hatte ich in der Tasche, welche uns bei diesem Verdacht rechtfertigen konnten. Ich sagte, man solle dort nachfragen, wo wir tags vorher auf unserer Reise durchgekommen und übernachtet hätten. Kurz, ich überzeugte den Jesuiten, daß ich die Wahrheit sagte; er ging fort und kam mit einem Stadtsyndicus zurück, mit dem ich gründlich sprach. Er examinierte auch den Schell im Arrest, fand alles in Übereinstimmung. Unsere[89] Schriften, deren man sich im Wirtshause bemächtigt hatte, erwiesen, wer wir waren. Ich blieb die Nacht hindurch im Kloster, schloß aber kein Auge bei immerwährenden Betrachtungen, wie tief mich das Schicksal hatte fallenlassen. Schell bekümmerte mich noch mehr, denn er wußte nicht, wo ich geblieben war und hatte sich fest vorgestellt, wir würden beide nach Berlin ausgeliefert werden und war für diesen Fall entschlossen, sich zu erdrosseln.


Früh um 10 Uhr war meine freudige Überraschung aber ohne Schranken, da mein braver Jesuit bei mir eintrat, den Schell mitbrachte und meldete, wir wären im Verdacht unschuldig befunden worden und könnten frei hingehen, wohin wir wollten; wir sollten uns aber von den preußischen Werbern hüten, die uns nachstellten. Ihr Lieutenant hatte gehofft, durch meine Arrestierung als Räuber würde ich als Rekrut in seine Hände geraten; dies sei der Schlüssel der gestrigen Begebenheit.

Ich umarmte den Schell, welcher bei der Arrestierung erstaunliche Stöße gelitten hatte, weil er sich nur mit seiner linken Hand verteidigen und mir folgen wollte. Der Pöbel bewarf ihn mit Kot, und im Arrest hieß ihn jeder einen Spitzbuben, der wegen Einbruchs an den Galgen gehöre. Kurz gesagt, der arme Mensch war außerstande, weiter zu gehen. Seine Wunde am Hals war vernarbt, aber die Hand noch gar nicht. Der Pater Rektor schickte uns einen Dukaten, ließ sich aber nicht sehen; und der regierende Bürgermeister gab uns für die unschuldige Arrestierung jedem einen Laubtaler. Hiermit waren wir expediert, gingen in unser Wirtshaus, nahmen unsere Sachen und wollten aus Thorn eilen.

Mir fiel aber ein, daß wir, um nach Elbing zu kommen, preußische Dörfer am Wege hatten. Wir erkundigten uns also in einem Laden, wo Landkarten zu finden wären?

Ein altes buckeliges Mütterchen stand gegenüber an der Tür; der Ladendiener wies uns an sie und sie sagte, sie hätte Landkarten genug, weil ihr Sohn studiere, und wir könnten sie uns ansehen. Wir redeten sie an, mein Vortrag gefiel, da ich sagte, wir wären unglückliche Reisende, die auf der Karte den Weg nach Rußland suchen wollten.[90]

Sie führte uns in das Zimmer, trug einen Atlas auf den Tisch, stellte sich vor mich, da ich ihn studierte, während ich bemüht war, meine schmutzigen Manschetten vor ihrem forschenden Auge zu verbergen. Sie betrachtete mich mit durchdringender Aufmerksamkeit, hub endlich mit weinender Stimme an:

Ach Gott! Wer weiß, wie es meinem lieben einzigen Sohn in der Welt geht! Ich sehe dem Herrn wohl an, daß er auch von guten Eltern ist. Mein Sohn ging mir auch in die Fremde, nun habe ich seit acht Jahren keine Nachricht. Er soll bei den Österreichern Reiter geworden sein.

Ich fragte: Bei welchem Regimente?

Bei Hohenems, er sieht dem Herrn natürlich gleich.

Ich fragte: Ist er nicht beinahe von meiner Größe?

Ja, wohl ebenso groß.

Hat er nicht blonde Haare?

Ja, ebenso, wie der Herr!

Wie heißt er denn?

Willi.

O liebes Mütterchen! rief ich aus. Will ist nicht tot, er lebt und ist mein bester Kamerad bei dem Regiment gewesen!

Nun erstaunte mein Mütterchen, fiel mir um den Hals, hieß mich einen Engel Gottes und stellte tausend Fragen, die ich leicht beantworten konnte, weil ihre voreilige Freude sie mir allezeit in den Mund legte. Ich war also diesmal ein Betrüger in der Not, und zwar durch besonderen Zufall.

Mein Vorteil war dieser: Ich sagte, ich sei gleichfalls Soldat bei Hohenems und reiste nur mit Urlaub nach dem Ermländischen zu meiner Mutter, würde aber binnen 4 Wochen zurückkommen, ihre Briefe mitzunehmen und ihr den lieben Sohn nach Hause befördern, falls sie ihn loskaufen wollte. Nun erzählte sie, der Stiefvater habe ihn vom Hause verdrängt und wünsche ihm nur den Tod, um ihrem kleinen Sohne, den er mit ihr gezeugt, alles Vermögen zuzuwenden. Er sei just nach Marienburg verreist – etc. etc.

Hier ergriff ich nun den Vorteil und bat sie beweglichst, sie möge meinen kranken, unterwegs von preußischen Werbern verwundeten Kameraden, der nicht weitergehen könnte, bei sich[91] behalten und versorgen, bis ich ihm sogleich Geld zum Nachfolgen geschickt habe oder ihn selbst mit Dankbarkeit auslösen könne.

Das Jawort folgte freudig; sogleich sorgte sie dafür, daß Schell bei einem Bürger und Freunde in der Nachbarschaft verpflegt wurde, damit ihr Mann nichts davon erführe. Wir mußten bei ihr essen, sie gab mir ein neues Hemd, Strümpfe und Verpflegung für drei Tage, auch sechs Lüneburger Gulden mit auf den Weg, segnete, küßte mich – und so schied ich abends von Thorn und meinem lieben Schell, der nunmehr versorgt war und sich in allem auf meine Hilfe ruhig verlassen konnte. Wir schieden mit Wehmut und in Bruderliebe; ich ging also den 13. noch 2 Meilen bis nach Burglow.

Niemals kann ich aber die Unruhe, die Empfindungen, den sinkenden Mut lebhaft genug schildern, die ich fühlte, die meine ganze Seele aus ihrer Fassung brachten, da ich ganz allein, ohne Freund, vorwärts wanderte. Diese waren gewiß unter die bittersten Stunden zu rechnen, welche von meinen Lebenstagen zurückgeblieben sind. Ich war sogar schon auf dem Wege, zurückzukehren und ihn mit mir zu schleppen; die Vernunft war aber Meister im Kampfe der Leidenschaft. Ich war schon nah am Ziele, und die Hoffnung trieb mich vorwärts.


Den 14. ging ich bis Schwetz.


Den 15. bis Neuburg und Möwe, folglich in zwei Tagen 13 Meilen.

In Möwe lag ich auf dem Stroh unter vielen Fuhrleuten; da ich aber aufstand, waren meine Pistolen und mein ganzes Geld bis auf den letzten Heller aus dem Sacke gestohlen; die Herren Schlafkameraden waren aber schon alle auf der Reise. Was war zu tun? Vielleicht hatte mich auch der Wirt beraubt. Ich hatte für 18 polnische Groschen verzehrt und mußte bezahlen; der Wirt war noch grob und stellte sich, als ob er glaube, ich habe gar kein Geld in sein Haus gebracht; ich mußte ihm also mein vorhandenes Hemd und ein halbseidenes Tuch geben, welches mir die alte Frau in Thorn geschenkt hatte, und ohne einen Heller weiter ziehen.
[92]

Den 16. kam ich nach Marienburg.

Auf dem Wege dahin war es aber unmöglich, sicher in die Stadt zu gelangen, ohne in preußische Hände zu fallen, wenn ich die Weichsel passierte. Ich hatte kein Geld, die Überfuhr zu bezahlen, welche nur zwei polnische Schillinge kostete.

Betrübt nachdenkend, wie ichs machen sollte, um hinüber zu kommen, erblickte ich zwei Fischer in einem Kahne. Ich trat hinzu, zog den Säbel und zwang sie, mich umsonst hinüber zu fahren. An anderen Ufer nahm ich den furchtsamen Leuten das Ruder weg, stieg aus, stieß den Kahn in das Wasser zurück und ließ sie schwimmen.

Man betrachte hier, daß zwei polnische Schillinge, die mir damals fehlten, und die nur einen halben Kreuzer betragen, hätten Ursache sein können, daß ich bei etwaiger Gegenwehr dieser Fischer mein Leben verloren oder in Verteidigung desselben unschuldige Menschen umgebracht hätte! Da ich zwei Jahre vorher im Wohlstand lebte, dachte ich gewiß nicht, daß es für mich möglich sei, binnen so kurzer Zeit in eine Not zu geraten, wo ich wegen zwei Pfennigen eine verzweifelte Unternehmung ausführen müßte ...

In Marienburg fand ich dann sächsische und auch preußische Werber. Ich hatte kein Geld, aß und trank mit ihnen, hörte mir ihre Vorträge an, machte Hoffnung auf morgen, und ehe der Tag anbrach, war ich zur Tür hinaus und ging


Den 17. März 4 Meilen nach Elbing.

Hier fand ich meinen früheren lieben Instrukteur Brodowsky als Hauptmann und Auditeur bei der polnischen Kronarmee, unter dem Golz'schen Regiment, der mir eben, da ich in die Stadt ging, entgegenkam. Ich erkannte ihn, er mich auch, – im Triumph folgte ich ihm in sein Quartier, und hier hatte meine gefahrvolle mühselige Reise ein Ende. Dieser ehrliche Mann behielt mich bei sich, verschaffte mir sogleich alles Notwendige und schrieb zugleich mit mir meiner Mutter in solchem Tone, daß sie nach ungefähr acht Tagen schon wirklich selbst bei mir in Elbing eintraf und mir als eine wahre Mutter Trost und Hilfe brachte.

Man kann sich die Empfindungen bei einer solchen Zusammenkunft[93] denken. Meine Mutter besaß einen durchdringenden Verstand, aber eine gefühlvolle, dankbare Seele. Sie verschaffte mir auch gleich einen Weg zur sicheren Korrespondenz mit meiner Freundin in Berlin. Diese schickte mir einen Wechsel auf Danzig von 400 Dukaten, und meine Mutter gab mir 1000 Taler und ein diamantenes Halskreuz für den Notfall, von etwa 500 Talern im Wert. Sie blieb 14 Tage bei mir und zwang mich, aller Gegenvorstellungen unerachtet, daß ich nach Wien reisen mußte, um dort mein Glück zu suchen. Ich selbst wollte unbedingt nach Petersburg, und alle meine Ahnungen waren gegen die Wien-Reise, welche wirklich all mein folgendes Unglück verursacht hat.

Meine Mutter riet anders, und sie versprach mir nur in diesem Falle ihre Unterstützung. Ich mußte gehorchen, sie verließ mich, reiste nach Hause, und ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen. Sie starb im Jahre 1751 und ihr Andenken erregt meine ganze Ehrfurcht. Glück für eine so wahrhafte Mutter, daß sie mein großes Unglück im Jahre 1754 nicht erlebte!


In Elbing widerfuhr mir beinahe die Geschichte des keuschen Josephs in Ägypten. Meines redlichen Hauswirts Brodowsky Frau, ein anbetungswürdiges Weibchen, verliebte sich in mich – undankbar wollte ich an meinem Wohltäter nicht sein – der Reiz war zu groß, sie trug sich sogar an, mir heimlich nach Wien zu folgen. Ich fühlte, daß ich nicht widerstehen konnte, – Madame Pothiphar muß nicht so schön gewesen sein wie Madame Brodowsky, sonst wäre Joseph unfehlbar bei seinem Mantel geblieben. Mich aber hielt eine wahre Ehrfurcht für diese Frau zurück, die mich ihrem alten garstigen Mann natürlich vorzog, die aber nach wenigen Tagen Genuß eine lange Reue desto bitterer, ebenso wie ich, empfunden hätte, weil wir uns doch trennen mußten.


Nachdem ich mich neu ausgestattet und meinen Wirt beschenkt hatte, reiste ich eilends nach Thorn. Wie entzückend war meine Zusammenkunft mit dem ehrlichen Schell! Das alte Mütterchen hatte ihn mütterlich versorgt. Wie erschrak aber die gute Frau, da ich bei ihr als Offizier und von zwei Bedienten begleitet eintrat![94] – Ich küßte ihr im wärmsten Dank die Hand, bezahlte alles reichlich, was der Schell genossen, welcher sich indessen wie ein Kind im Hause bei ihr eingeschmeichelt hatte. Ich erzählte ihr nun, wer ich eigentlich war, sagte ihr aufrichtig, wie ich sie mit der Geschichte ihres Sohnes hintergangen hätte und versprach, sogleich nach meiner Ankunft in Wien ihr positive Nachricht von diesem verlorenen Sohn zu geben.1 Der Vater war ein Goldarbeiter. Binnen 3 Tagen war der Schell equipiert, und so reisten wir von Thorn ab und kamen nach Warschau, und von da über Krakau nach Wien.


In Bielitz suchte ich den Hauptmann Capi, welcher uns so grob mißhandelt und damals meine Herausforderung ausgeschlagen hatte. Er war aber nicht mehr da, und erst nach etlichen Jahren begegnete ich ihm, da der feine Italiener mir die demütigsten Entschuldigungen machte.

So gehts! Von meiner Rückreise aus Danzig bis nach Wien wüßte ich nicht eine Seite in dieser Erzählung zu füllen – hingegen von der Reise hinauf und zu Fuß hätte ich dreimal so viel vorzutragen, als geschehen ist, wenn ich den Leser mit Kleinigkeiten beschäftigen wollte.

Im Elend und Unglück folgt eine Begebenheit der anderen; man sieht auch die Welt und lernt sie besser kennen, wenn man sie zu Fuß durchwandert und damit allen Gattungen von Menschen umgehen muß, als wenn der gnädige Herr in einer bequemen Kutsche wollüstig eingewiegt schlummert, da indessen sein Kammerdiener die Postillons bezahlt, damit sie recht geschwind ein ganzes Königreich durcheilen, wo der Herr im Wagen nur etliche Gasthöfe gesehen hat!
[95]

Bisher hatte ich weder gebettelt noch gestohlen, aber desto mehr Ungemach und Hunger überstanden und weit mehr gelitten, als ich in diesen Blättern bekannt machte. Ich war ein wahrhafter Robinson, wo das Schicksal schon alle mögliche Tücke an mir zu versuchen anfing, um mich durch wiederholte kleine Angriffe abzuhärten und stark genug zu bilden, wodurch ich die folgende ungeheure Bürde aller möglichen Unglücksfälle standhaft zu ertragen vorbereitet wurde und gegenwärtig als ein wahrer praktischer Lehrmeister in der hohen Schule aller Leidenden, mit allgemeinem Beifall aller echten Weltweisen, Schicksalskenner und Verdienstschätzer auftreten kann.

Nun folgt also ein neuer Aufzug in meinem Trauerspiele.

Fußnoten

1 Bei meiner Ankunft in Wien gab ich mir gleich alle Mühe, diesen Willi zu erfragen, erfuhr aber durch die Kommissariatsliste, daß er im Jahre 1744 vom Regiment desertiert, wieder gefangen und wirklich aufgehängt ward; ich erhielt durch etliche Dukaten das Attest seines natürlichen Todes. Dieses schickte ich der guten Mutter, begleitet von einem Dank- und Trost-Brief. Vielleicht hat der gute Mensch, der zu Hause 20000fl. zu erben hatte, den Abschied nicht erhalten können, desertierte – und wurde wie ein Übeltäter gehenkt. Sind hierbei nicht auch ernsthafte Betrachtungen anzustellen?


Quelle:
Trenck, Friedrich Freiherr von der: Des Friedrich Freiherrn von der Trenck merkwürdige Lebensgeschichte. In: Eberhard Cyran, Trenck, Memoiren und Kommentar, Berlin: Haude & Spener, 1966, S. 7–283., S. 96.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon