25. Der Vorhang geht auf

[141] Großes Symphoniekonzert. Beethovens große Leonorenouvertüre in C-Dur läßt uns das Stöhnen und Seufzen der gefangenen Seelen, den verzweifelten Schrei nach Freiheit und Sonne vernehmen. Der rettende Engel faßt den begeisterten Entschluß, alle Schranken niederzureißen, die jene Unglücklichen vom Himmelslicht trennen. Hoch, höher und immer gewaltiger schwillt die Seele von der Heilssendung zur Erlösung der Welt – –[141]

Zwei blutjunge Mädel, kaum dem Backfischalter entwachsen, unterhalten sich hinter mir, zuerst gedämpft, bei dem crescendo im Finale lauter. Ich drehe mich um, sehe die Mädel vorwurfsvoll an und schüttele mißbilligend mit dem Kopfe. – Eine Minute herrscht Ruhe, dann beginnt die Schnatterei von neuem. Nachdem ich mich zum zweiten Male umgeschaut habe, meint die eine:

»Was will der eigentlich von uns? – Was wir hier sagen, kann doch jeder hören.« – Fast hat die holde Maid recht.

Wer ein Theater oder gar einen Konzertsaal aufsucht, sollte daran denken, daß er ein heiliges Land, den Tempel der Kunst betritt. Er sollte in diesem Augenblick das Gewand seiner Seele wechseln.

Wenn der Vorhang aufgeht oder der Dirigent seinen Stab erhebt, muß über den Menschen, die der Kunst Ohr und Auge weihen, tiefste Ruhe liegen, denn nur das große Schweigen macht die menschliche Seele für die hehren Gaben einer unsterblichen Kunst aufnahmefähig. Wer diese Verpflichtung nicht anerkennt, sollte Theater und Konzert meiden. Das Lösen einer Eintrittskarte gibt keinem das Recht, sich in Räumen der Kunst so zu benehmen, wie es ihm paßt. Es muß von ihm allergrößte Rücksicht gegenüber denen erwartet werden, die für die Darbietungen Empfinden und Verständnis haben. Im übrigen wird sich der Banause bei einer Schweinshaxe wahrscheinlich viel wohler fühlen, als bei einer Wagneroper.

Diese Rücksicht, die von jedem einzelnen verlangt werden muß, besteht darin, daß er sich möglichst unauffällig benimmt, daß er die Andacht der andern respektiert, vor allem, wenn sie ihm selbst fremd ist, und daß er größte Ruhe bewahrt. Auch das Knistern mit Papier ist eine häßliche Angewohnheit. Wer im Theater oder Konzertsaal auf den Genuß von Pralinen nicht verzichten zu können glaubt, sollte sie in einer Pause zu sich nehmen. – Auch ein Verschnupfter, der häufig sein Taschentuch zücken, niesen und zwischendurch auch noch husten und sich räuspern muß, sollte jeder Kunststätte fernbleiben. Einmal setzt er seine Nachbarn der Gefahr einer unwillkommenen Ansteckung aus, ferner stört er mit seinem Husten, Schnaufen und Prusten sehr erheblich.[142]

Pünktlichkeit ist nicht nur die Höflichkeit der Könige, sondern auch der Theaterbesucher. Wer zu spät kommt, hat schon mit sofortiger Bestrafung zu rechnen, denn er muß an der Tür so lange warten, bis die Ouvertüre oder ein Akt beendet ist. Dann aber werden meist die andern für die Sünde des Zuspätkommenden bestraft, indem sie ihn passieren lassen müssen, damit er seinen Platz erreicht, wobei sie riskieren, angestoßen oder auf die Füße getreten zu werden.

Man kann diese Belästigung vermeiden, wenn man sich zunächst auf einen freien Platz im Hintergrund setzt, falls ein solcher zur Verfügung steht.

Wer durch einen zuspätkommenden Besucher gestört und belästigt wird, sollte schweigen und nicht laut werden oder murren, dadurch schadet er sich nur selbst und vermehrt die allgemeine Störung.

Es gibt leider eine ganze Menge Menschen, die notorisch unpünktlich sind. Ihnen fehlt meist das Zeitmaß, oft ist es auch mit ihrer allgemeinen Ordnungsliebe schlecht bestellt. Fehler zu haben, ist an sich nicht schlimm, denn fehlerlos ist keiner von uns, aber jeder hat, wie wir im ersten Teil näher ausführten, die Aufgabe und die Verpflichtung, seine Fehler zu sehen und bemüht zu sein, sie abzulegen. Wer morgens nicht aus den Federn finden kann, wird oft zu spät an seine Arbeitsstätte, mittags verspätet zum Essen und abends zu spät ins Theater kommen. Da hilft nur energische und zielbewußte Selbsterziehung.

Wer zu spät kommt und sich daneben noch laut und auffällig benimmt, sündigt doppelt. – Die blonde, temperamentvolle aber meist unpünktliche Ingeborg kommt sich heute besonders vornehm vor, denn sie hat für den Lohengrin einen Platz in der Mittelloge, den sie also bei ihrem verspäteten Kommen während des ersten Akts aufsuchen kann. Vielleicht sieht sie ein Zeichen von Vornehmheit darin, daß sie die Tür hinter sich reichlich geräuschvoll schließt, gerade in dem Augenblick, als Graf Telramund auf des Königs Geheiß die furchtbare Anklage gegen Elsa erhebt. Sie stolpert ein wenig und läßt dabei ihr Opernglas fallen. Ein Herr hilft ihr, in der Dunkelheit suchen und findet es. Trotz der Dunkelheit erkennt sie eine Bekannte, die sie flüsternd begrüßt. Als sie nun aber noch anfängt, mit ihrer Pralinentüte[143] zu rascheln, dreht sich ein Herr nach ihr um und meint ebenso höflich wie leise: »Wo man singt, da laß dich ruhig nieder!«

Pause nach dem ersten Akt. Nun kann endlich die Neugierde befriedigt werden, wer wohl heute abend im Theater ist. Es gibt Menschen, die beim ersten Aufflammen des Lichts das Glas zücken und nun die Theatergäste der Reihe nach absuchen, die Gesichter und vor allem die Toiletten und Frisuren der Damen studieren. Draußen in den Vorräumen wird eifrig weitergeforscht. Darin kann eine Aufdringlichkeit liegen, die den andern sehr mißfallen wird. – Man begrüßt Bekannte, sollte aber möglichst Gespräche vermeiden, die im völligen Gegensatz zu dem Kunstempfinden stehn. – Gegen Ende der Pause ertönt ein Glockenzeichen. Es nachlässig zu überhören, ist nicht etwa vornehm, wie es vielleicht erscheinen soll, sondern rücksichtslos, vor allem dann, wenn man einen Platz etwa in der Mitte einer längeren Reihe hat, weil man sonst viele Menschen stören oder zum Aufstehen veranlassen muß.


25. Der Vorhang geht auf

Nun ein Wort über die Kleidung. Grundsatz muß sein, sich für eine Theatervorstellung oder ein feierliches Konzert festlich zu kleiden. Ein dem Sinn angepaßtes Äußere macht den Menschen für das Kunstgenießen aufnahmefähiger und[144] entspricht der Verpflichtung, die er andern Theaterbesuchern gegenüber hat. Im Vergleich zur Vorzeit ist man allerdings etwas weitherziger geworden, insofern nämlich, als die strengen Formen eine gewisse Abschwächung erfahren haben. Wer diese Auflockerung aber so auslegt, daß er glaubt, mit Knickerbockern in eine Oper gehn zu können, darf sich über viele mißbilligende Blicke nicht wundern. – Besonders festlich sollte man sich kleiden, wenn man eine ausgesprochene Fest- oder Uraufführung besucht, das ist eine alte, schöne Sitte. Ganz allgemein sei darauf hingewiesen, daß das Äußere des Mannes dem der ihn begleitenden Frau angepaßt sein muß. Frauen, die über einen gutgefüllten Kleiderschrank verfügen, werden sich, wenn sie ein Lustspiel oder eine Operette besuchen, anders kleiden, als wenn sie in eine große Oper gehn. Dementsprechend wird der Mann einen dunklen Anzug oder einen Smoking anziehen. Eine Frau in großer Abendtoilette neben einem Herrn im Straßenanzug widerspricht dem guten Geschmack.

Viel leichter ist die Kleiderfrage gelöst, wenn man ins Kino geht. Da bestehen keinerlei Vorschriften, Straßenanzug genügt also. Während im Theater und Konzertsaal die vorherige Abgabe von Hut, Mantel, Schirm und Überschuhen selbstverständlich ist, schrecken zahlreiche Volksgenossen davor zurück, zehn oder zwanzig Pfennig für das Ablegen der Garderobe im Lichtspielhaus auszugeben. Das ist töricht. Es ist nicht behaglich, in einem meist recht warmen Raum zwei Stunden oder länger im Mantel zu sitzen, vielleicht den Regenschirm, über den andre in der Dunkelheit stolpern können, zwischen den Beinen und den Hut krampfhaft in der Hand zu halten. Auch die Aufnahmefähigkeit leidet darunter und nicht zuletzt die Garderobe selbst. –

Der Beifall gehört zu dem täglichen Brot der Theaterkünstler. Man soll nicht damit geizen, wenn er berechtigt ist. Junge Menschen haben ihre besonderen Theaterlieblinge, denen sie oft spontane und nichtendenwollende Beifallskundgebungen bereiten. Wer älter ist, sollte das nicht kritisieren und daran denken, daß er es vor Jahrzehnten wahrscheinlich ebenso gemacht hat. Es ist kein Witz, daß es junge Mädel gibt, die so lange klatschen, bis ihnen die Hände schmerzen[145] und die dann in ihrem unstillbaren Enthusiasmus die Schuhe ausziehen, um die Sohlen begeistert gegeneinander zu schlagen. Das ist eben die Jugend, der wir die Begeisterungsfähigkeit gönnen sollen, die wir ihr übrigens auch nicht nehmen können.

Wenn sich der Vorhang nach einem Trauerspiel schließt, das uns geistig und seelisch aufgewühlt hat, bringen wir unsre Anerkennung und Ehrfurcht vor dem Dichter und den Darstellern am besten schweigend zum Ausdruck. Nach einer hochstehenden Hamletaufführung in die Hände zu klarschen ist gefühl-und geschmacklos.

Nun beginnt der nicht scharf genug zu verurteilende Sturm auf die Garderobenablage mit allen menschlichen Rücksichtslosigkeiten und selbstsüchtiger Ellenbogenfreiheit. Und das vielleicht nach einem hohen Kunstgenuß! Man möchte oder »muß« ein, vielleicht sogar zwei Minuten einsparen, während man sich später in einer Gaststätte fragt, ob man noch ein Stündchen bleiben soll oder nicht. –

Wenn sich doch so manche Menschen im Spiegel sehen könnten, um zu erkennen, eine wie komische, hastige und zugleich brutale Figur sie in dem Augenblick machen, wo sie sich an die Garderobe herandrängen oder mit dem Zeug für zwei oder gar drei Personen bepackt durch die nachdrängenden Menschenmassen hindurchschlängeln! – Es ist furchtbar. Es sollte in solcher Situation jeder daran denken, daß nur etwa sechs Minuten vergangen sind, bis der letzte seinen Mantel in Empfang genommen hat.

Menschen, die nach dem Parsifal oder nach Egmont in ein Kaffee gehn, in dem leichteste musikalische Kost geboten und vielleicht auch getanzt wird, verdienen, als Banausen bezeichnet zu werden. Unmittelbar nach einem so gewaltigen Erleben unmittelbar zu Bett zu gehn, ist nicht zu empfehlen, zumal die erregten Nerven in den meisten Fällen noch keinen Schlaf zulassen. Also geht man in eine stille Gaststätte, sucht sich mit seinen Bekannten vielleicht in einer Weinstube eine ruhige behagliche Ecke, um noch ein Stündchen bei einem Glas Burgunder über die Eindrücke des Kunstwerks und die Leistungen der Darsteller zu plaudern. –[146]

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 141-147.
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