Dom Jahre 1925
Berlin, 31. März 1925

[183] Der Winter des Jahres 1924 und 1925 ist einer der wenigen anständigen in Deutschland geblieben. Im ganzen ist er auch demnach für mich an künstlerischen Produktionen ziemlich erfolgreich gewesen. Wenigstens im Sinne der Berliner Kritiker. Die Kritik kann mich mit dem sogenannten »Altersstil« gar nicht genug rühmen. Die Bilder von Bayern und dem Vierwaldstätter See sind tatsächlich gut. Es sind zwei Pendants. Ein Vormittag und ein Nachmittag. Ferner habe ich das »Trojanische Pferd« gemalt. Diese drei Bilder habe ich im Kronprinzenpalais in Pension gegeben, wo sie noch heute sind. Das »Trojanische Pferd« ist auch von meinen Kollegen sehr bewundert. Eine Anschauung, welche ich als echt von ihnen empfunden habe; denn zwischen mir und den Kollegen wäre gar kein Grund vorhanden, es nicht ebenso auch miserabel zu nennen, wenn sie es so empfunden hätten. Ich hebe die Arbeiten nur deshalb als so ganz besonders hervor, weil ich wohl in keiner Zeit so von moralischen Depressionen heimgesucht worden bin, wie gerade in dieser Zeit. Es ist mir[183] zum Heulen. Ein Ekel vor jeder Malerei erfaßt mich. Warum soll ich noch weiter arbeiten, alles ist Dreck. Dieses greuliche Weiterarbeiten ist mir zum Kotzen. Dabei bin ich 67 Jahre alt und nähere mich diesen Sommer dem 68 sten. Was soll noch daraus erblühen? Das kommende Greisenalter erfaßt mich immermehr, die körperliche Kraft läßt immermehr nach. Die Senilität? Ich flehe immer, ja nicht senil zu werden. Die Angst davor ist greulich! Wenn ich niemals vor anderen Kunst gesimpelt habe, so ertappe ich mich vor mir selbst, Kunst zu simpeln. Ich fange an, geläufige Redensarten vor mir zu demonstrieren, z.B. Zeichnen heißt auslassen! Ein Neues habe ich gefunden: die wahre Kunst ist Unwirklichkeit üben. Das Höchste! »Unwirklichkeit« finden wir bei Shakespeare im Sommernachtstraum, Hamlet und überall. Auch Goethe ist wohl darin reich, im Egmont. Schlecht ist solche Kunst, wenn sie bis zum Tz sehen läßt, was es zu bedeuten hat. Selbst Leibl ist in seinen ausgeführtesten Arbeiten »unwirklich«! Alle Patzer, Realisten sind Stümper. Jeder muß es studiert haben. Perspektive oder Photographieren nach der Natur. Der Ausdruck »wie eine Photographie«; das ist des Pudels Kern! Ich weiß nicht, ob ich Recht habe? Daß man mich nicht versteht, daran bin ich längst gewöhnt. Der eine Name Rembrandt leuchtet durch alle Finsternis. Dagegen die Meinwegerei ist wohl das Verzwickteste in der Welt. Also meinetwegen versuche ich es noch weiter. Wenn man vieles erreicht hat, wird es desto schwerer, vieles für sich herauszuschlagen. Jeder will einen übervorteilen, um aus dem Felle des Löwen soviel wie möglich herauszuschlachten. Die Verleger und alle Sorten von Menschen wollen ihre List anwenden, einen zu übervorteilen. Das Rechnen ist von Kindheit an meine schwächste Seite gewesen. Ich fühle auf Schritt und Tritt, wie ich über das Ohr gehauen werde.[184] Infolgedessen habe ich wieder neuen Ärger, denn ich möchte doch so gern klug und verständig sein. Das ist ein Fall mehr, meiner Unwissenheit zu fluchen. In neuester Zeit habe ich einen sehr berühmten Mann kennen gelernt. Ich hatte zu Weihnachten den Cäsar von Brandes erhalten und monatelang durchgelesen. In meinem Enthusiasmus schrieb ich an Brandes. Er schrieb mir zurück, daß er in Berlin einen Vortrag halten wollte. Ich fing diese kurze Erklärung auf und bat ihn, für ein Porträt Sitzungen zu gewähren und, in Berlin angelangt, bei uns zu Abend zu essen. Brandes sagte zu, und so waren wir zu einem der angenehmsten Abende beieinander. Ich war schon früher einmal bei Liebermann mit ihm zusammen, etwa 1902. Der Dichter des Tannhäuser namens Griesebach war der Vierte. Ich habe nie etwas Geistreicheres erlebt wie diesen Abend. Zwischen Liebermann und Brandes, welche Rassenverwandtschaft hatten, entspann sich ein flammendes Feuerwerk. Jeder wollte dem andern vorbeisprechen, und ich mußte wohl dem Brandes ob seines glitzernden Gefunkels den Endsieg einräumen. Griesebach und ich, als zwei stumpfsinnige Norddeutsche, standen abseits von diesem Geplänkel. Liebermann hatte ihn zu jener Zeit gemalt. Er schien dieselbe Taktik geübt zu haben, wie ich auch. Leider äußerte sich Brandes über die Art des Malens von Liebermann nicht besonders angenehm. Der Charakter von Brandes war sich gleich geblieben. In seinem 83sten Lebensjahr war sein Haar weiß geworden, aber das Gefunkel und das Geistreiche, Brillierende in Worten war dasselbe, wie auch zu jener Zeit. Wie ich heute bemerken konnte, sprach er gern allein, aber es war ihm angenehm, ja fast verlangte er es, daß ihm der Ball aufgefangen wurde und ebenso geschickt gegen ihn gespielt wurde. Sein Alter bedauerte er sehr, aber er verweilte gern beim Chronikenstil und[185] erzählte aus seiner Jugendzeit, wo er mit Andersen noch befreundet war. Als er uns verließ, haben wir selten so dankbar empfunden und äußerten uns ohne Spitzen mit den noch Zurückgebliebenen, wie so äußerst interessant dieser Abend gewesen war. Jeder der Tafelrunde hat später mit vielem Vergnügen an den schönen Abend gedacht. Den nächsten Morgen klopfte ich im Kaiserhof bei ihm an. Er saß zufrieden an seinem Tischchen und frühstückte. Er hatte einen bequemen Schlafrock aus starrer schweizer Seide mit goldenen Stickereien an. Eine Dame, Dänin, umgab ihn mit vorsichtiger Sorgfalt; er nannte sie seine Sekretärin. Sofort, als wir uns zurechtsetzten zum Malen, war seine erste Sorge, daß er mit jemand reden müßte. Die Dame schien aber sehr klug zu sein, sie verschwand und kam erst wieder, als ich fast fertig war. Brandes schien sehr erregt zu sein. Auf seine Frage, wo sie solange gewesen war, sagte sie mit ruhiger Stimme, sie hätte Schlafwagenbillets für Wien geholt. Dann wurde noch eine Dame aus dem nächsten Zimmer gerufen und mir vorgestellt: Frau Lola. Sie sagte, daß wir schon bei Verleger Fischer gesellschaftlich zusammen waren. Das gemalte Bild steht mir auch noch zu nahe, als daß ich es wegen der Qualität beurteilen könnte. Wenn ich aber meine Sympathie in Bezug auf den Charakter der Modelle äußern sollte, so würde ich entschieden Ebert, den Reichspräsidenten, vorziehen. Er hatte eben einen seltenen und schönen Takt, so daß er durch sich nur erfreute! Wir betrauern ihn als Toten. Deutschland ist durch eine neue Wahl in arge Bedrängnis versetzt.


Berlin, den 13. April 1925

Heute ist Ostern, zweiter Feiertag. Die Ostertage waren so schön, wie man es gar nicht denken kann. Auch heute prangt ein blauer Himmel.[186] Wenn nicht ein kalter Lufthauch vorbeiziehen würde, wäre man versucht, den schönsten Sommer zu sehen. Es wäre schön, spazieren zu gehen, aber seit langer Zeit ziehe ich es vor, die Natur von dem Hause aus zu sehen, weil ich mit den Füßen schlecht bestellt bin. Die Bäume auf den Straßen haben Blättchen herausgetrieben. Es grünt und knospet überall. Ich habe den Wallenstein von Schiller gelesen, und da ich zu sehr mit Goethe vereint bin, so ist es nicht mein Fall. Abgesehen von Wallensteins-Lager ist es ein schlechter Piloty gegen einen guten Rembrandt. Es ist mir unverständlich, wie sich Goethe von Schiller so beeinflussen ließ. Er war doch weit künstlerischer. Schiller ist in seiner Art großer Phrasendrescher mit großem Geschmack. Das vernünftigste Urteil: »Deutschland kann stolz sein, zwei solche Männer zu besitzen. Aber der Künstler même il faut ist Goethe.«

Ich stehe vor einem großen Bilde. Es wird ein Ecce Homo. Ich will es ausführen, die Osterzeit hat meine Spannkraft erhöht. Ich hänge künstlerisch mit den Geschehnissen der Bibel und ihren Feiertagen zusammen. Als Radierung habe ich in dieser Zeit eine Auferstehung gearbeitet. Als Gründe dieses Motivs reizten mich sehr, wie nach der Bibel der mystische Vorgang in der Grabhöhle vor sich geht, die Frauen im schönsten Frühlingsmorgen mit ihren Spezereien erscheinen, die Jünger Petrus und Johannes neugierig dahin eilen, und namentlich weil Johannes schnellfüßiger ist als Petrus, auch zuerst zum Grabe kommt und hineinguckt. Derartige Motive bleiben mir durch Jahre, bis es sich auf einmal als Kunstwerk äußert und bearbeitet wird. Einstweilen bin ich mit der Radierung immer noch nicht zufrieden und denke es nochmals zu fassen, bis ich es gelöst habe. Auch für den »Ecce Homo« habe ich eine große Platte gekauft. Vielleicht wird es was![187]

Am Sonntag, den 26. April 1925 war Wahltag um den Reichspräsidenten. Es handelte sich darum, ob Hindenburg oder Marx durchkommen soll. Hindenburg wurde gewählt im 77. Jahre seines Lebens. Ich hatte Marx gewählt.

Geschrieben am 28. April, Berlin.


Am Sonntag, 30. April, gab der Reichskanzler einen Bierabend in dem früheren Hause von Bismarck. Reichskanzler war Luther. Jeder ist gespannt, ob Hindenburg auch die Intellektuellen einladen wird?

Es treibt mich dazu, die Tage meiner Kindheit wieder in mein Gedächtnis zu prägen. Der Vater meines Vaters war Bauer bei Löwenhagen am Pregel. Er kaufte dann ein größeres Bauerngut. Er muß spät geheiratet haben; dennoch hatte er fünf Söhne und eine Tochter. Alle Ostpreußen behaupten, von Salzburgern abzustammen, und so ist wohl auch ein Tropfen Salzburgerisches Blut in mir. Der Großvater meiner Mutter war Schuhmachermeister in Tapiau in der Abtstraße. Ich habe meine Großeltern nicht gekannt, weil ich ein Spätling war. Mein Vater war der vierte Sohn seines Vaters. In Ostpreußen sind viele jüngere Söhne an Witwen verheiratet, um eine Wirtschaft zu erhalten. So mein Vater und dessen nächst älterer Bruder. Der Großvater hatte die Unklugheit begangen, sein Gut an den ältesten Sohn zu übergeben und ein Altgeding zu beziehen. Der älteste Sohn hieß Julius. Alle Söhne waren, soweit ich mich erinnere, sehr schöne Menschen. So auch der älteste. Aber waren die andern auch intelligent, war dieser mehr gutmütig und nicht zu gescheit. So hatte der zweite Sohn ihn überredet, das Gut ihm zu überlassen; er würde ihm eine blendende Zahlung geben. So geschah es auch. Julius der Älteste heiratete eine alte Frau, die »vorsorgene« Tante, diese[188] soll ihn immerhin gut situiert haben. Der Gutsinhaber warf alsdann die Großeltern hinaus, auch seine Geschwister. Die alten gingen zu ihrer verheirateten Tochter und vegetierten da in Pregelswalde beim Ohm Lorenz, so hieß ihr Mann. Mein Vater wußte nichts anderes zu tun, als freiwillig Soldat zu werden. Er war wohl der Klügste von allen. Er lernte alsdann die Schreiberei bei dem Bürgermeister von Tapiau, zog dann zu seinem nächstältesten Bruder, der eine Witwe mit Bauernhof erheiratet hatte und sah wohl auf Ähnliches aus. Er half seinem Bruder die Landwirtschaft führen und suchte wohl auch die Töchter des Landes zu gewinnen. In Goldbach soll eine Flamme existiert haben, die ich sogar kennen gelernt habe. Aber er heiratete in Tapiau eine Witwe, welche eine bessere Gerberei besaß, wenn auch verwahrlost. Fünf Kinder aus erster Ehe hatte meine Mutter. Trotzdem diese Stiefkinder neidisch und über die Heirat ärgerlich waren, so brachte mein Vater das Anwesen doch vorwärts. Auch mich verfolgte der Neid und Haß meiner Stiefgeschwister. Soll ich doch fast immer in Lebensgefahr gewesen sein, und meine Stiefschwester erzählte oft, daß sie mich vor dem Messer des ältesten Stiefbruders gerettet hätte und geflüchtet ist mit mir. So war es in unserem Hause nicht schön! Dazu alle älter als ich! Es waren Barbaren in des Wortes richtiger Bedeutung. Eine gute Kinderstube im heutigen Sinne gab es nicht. Ob wohl den ältesten Bruder die Nemesis erreichte? Jedenfalls starb er sehr bald, und von den vielen Kindern, welche er hatte, starben die meisten in jungen Jahren. Nun ist noch eine Tochter übrig, welche ich auch nicht kenne, ohne Vermögen. Das schöne Gut machte der zweite Mann der Frau bankrott.

Meine Mutter war scheinbar hart und strenge. Prügel habe ich nur von ihr bekommen. Mein Vater, den ich abgöttisch liebte, schlug mich[189] niemals. Die Mutter verstellte sich nur, durch schlechte Erfahrungen abgehärtet. Im Grunde war sie sehr liebebedürftig. Manches Mal zwang sie mich, sie zu herzen und zu gosseien, wie es dort heißt. Wir waren träumerisch, und ich rühme mich, daß ich vor dem Einschlafen lange Reden als Pfarrer hielt. Damals war ich vielleicht fünf Jahre alt. Wir sind alle von einer versteckten Sinnlichkeit. Nach den Mädchen ging unser Sinnen und Trachten. Aber niemals sprechen oder öffentlich schön tun. Der älteste Bruder Julius heiratete dann noch öfters, kam auf keinen grünen Zweig und wohnte dann bei dem Bruder im Gut, wo mein Vater als junger Mensch gehaust hatte – aber nun als alter Mann. Er war das reine gutmütige, dumme Kind. Mein Vater sagte wohl, er hätte sich die Verarmung zu sehr zu Herzen genommen. Er wurde dann unzurechnungsfähig und mußte nach der Anstalt Allenberg gebracht werden. Er kam wohl wieder gesund zurück, aber dann kam ein Rückfall. Auf dem Wagen, welcher ihn nach Allenberg führte, rief er den Vorbeigehenden zu: »Der verrückte Corinth wird wieder nach Allenberg gebracht!« Manches Mal scheint es mir, daß ich sehr viel von diesem Ohm habe. Er blieb dann da viele Jahre, sogar nach dem Tode meines Vaters. Mein Vater hatte alle Kosten bezahlt. Nach dem Tode meines Vaters weigerte ich mich zu bezahlen. Aber ich hatte nicht mit dem jüngsten Bruder gerechnet. Derselbe verfluchte mich und drohte mir die schlimmsten Strafen, so daß ich doch lieber bezahlte. Er wurde dann auch weicher, sogar zärtlicher und nahm den Fluch dann wieder zurück. Dieses Barbarische meiner Familie ist bis heute in meinem Gemüte geblieben. Alle Verwandten sind tot: Meine Stiefschwester ist ins Wasser gegangen, weil ihr Mann verwahrlost war und versoffen! Sic transit gloria mundi.


Berlin, 5. Mai

[190] Meine Mutter war nebst der Tante, bei welcher ich in Königsberg erzogen wurde, Tochter eines Schuhmachermeisters in Tapiau mit Namen Butther. Er war ziemlich begütert zu seiner Zeit. Ein großes Haus, geradezu palastähnlich, gehörte ihm. Es wohnten noch in dem Hause unter anderen der Drechsler und Pumpenbohrer Mehlhoch. Da wurde der Klatsch großgezogen. Meine Mutter, ich setze voraus das größte Pietätsgefühl, war wohl in der kleinen Stadt im Leben still und einfach. Wohl hatte sie ihren Kummer. Natürlich dachte sie vielleicht an den Zukünftigen. Aber wie es unter Männern war, in der Hauptsache eine fertige Wirtschaft beim Heiraten zu finden, so wird es auch unter den Frauen sein. Kurz und gut, sie heiratete einen Gerbermeister Opitz und wurde Mutter von vier Söhnen und einer Tochter. Die Tochter und der jüngste Sohn Zwillinge. Sie wurde als viel jüngere Frau von ihrem Manne brutal behandelt, die Trunkenheit war wohl das gewöhnlichste Laster. Sie wurde als Witwe herrschsüchtig, wirtschaftlich und vielleicht ihre beste Gemütsveranlagung, die Liebe zu ihrer Familie, wurde durch das Barbarische ihrer Umgebung vollkommen unterdrückt. Ich sah sie stets spinnen in dem Gesindezimmer und weben. In der zweiten Ehe wurde sie etwas freundlicher, aber da mein Vater ihr verständig zu Willen war, hielt sie Haus und Wirtschaft tyrannisch zusammen. Dann wuchsen die Söhne zu Männern heran und wollten auf ihre Weise heiraten, und da brach der Streit los. Ihre Liebschaften fielen allgemein auf mesalliances. Ich zweifle nicht, daß eine friedliche und weiche Mutter sie hätte wohl zugeben können, aber so prallte ein harter Stein gegen den andern. Dazu kam der Haß gegen die zweite Ehe der Mutter und der Neid gegen mich, ihren Stiefbruder,[191] weil ich in Königsberg in das Gymnasium ging. Dennoch muß ich sagen, daß manches Mal bei den Stiefbrüdern ein Funken von Liebe gegen mich auftaute, grade, wenn ich zu den Ferien nach Hause kam. Aber gegen Mutter und ihre Heiratspläne war immer Krieg. Sie begehrten auf, und die Mutter verfluchte sie! Trauer und Zank ging durch das Haus. Allmählich gingen die Söhne fort, und ein ruhigeres Leben war die Folge. Einst saß die Mutter spinnend, und ich stand am Fenster um zu sehen, wer hereinkam. Da kam eine junge Frau. Dieselbe gab sich als Frau ihres Sohnes zu erkennen. Aber nichts bewegte sie. Ein vereitelter Handkuß, indem sie ruhig weiterspann. Kein Wort wurde gesprochen, bis sie endlich fortging. Ähnlich entsinne ich mich, kam in jungen Jahren ein alter Bauer mit langen weißen Haaren, buschigen Augenbrauen und blauen Augen. Meine Mutter war gegen ihn zuvorkommender als sonst. Ich mußte einen Kuß geben, und sie war gegen ihn von der höchsten Delikatesse, soweit es ihr möglich war. Später schloß ich daraus, daß es wohl irgendein Verwandter meines Vaters war, denn heute sehe ich auch die Familienähnlichkeit. Aber wer der Verwandte war, konnte ich nie erfahren.

Ich war auf der Untertertia der Schule, und ungefähr dreizehn Jahre, als mein Vater nach Königsberg kam und sagte, daß die Mutter schwer krank darnieder liege. Als ich bald darauf zu den Ferien nach Hause kam, lag meine Mutter sehr schwer krank zu Bett. Keine Sentimentalität war an ihr zu erkennen. Sie sprach nur von der guten Wirtschaft, die sie hinterließ. Manches Mal streifte sie mich, mit kurzen Worten sah sie in die Zukunft, in der sie mich nach zwanzig Jahren sehen konnte. Der Zustand ihres Befindens wurde immer ernster, bis endlich der Arzt riet, wenn noch Verfügungen zu treffen wären, sollte es bald geschehen.[192] Meine Mutter faßte es begierig auf. Der Schreiber kam und eine Art Jurist. Ich blieb dabei und sah, wie sie es im Leben geführt hatte, so wollte sie auch nach ihrem Tode sein. Die Söhne, welche das Haus verlassen hatten, wurden auf Pflichtteil gesetzt. Dann wurde es im Hause verhältnismäßig ruhig; die Mutter fieberte und zupfte die Bettdecken. Ich habe sie in dem Zustande gezeichnet, und zu meinem größten Bedauern ist die Zeichnung verschwunden. In derselben Nacht starb sie, ruhig, als Philosophin. Dann läuteten die Kirchenglocken und machten kund, daß wieder ein Mensch schlafen gegangen war. Ich habe keine gute Kinderstube gehabt, sogar eine möglichst schlechte. Die Erzogeneren haben keine Ahnung, wie das auf ein Kind wirkt, aber soviel sage ich, daß ich Gott danken kann, daß ich noch zu einem halbwegs anständigen Menschen herangewachsen bin. Und doch, die Natur konnte kein günstigeres Feld für einen Künstler finden. Das Leben in jedem Beruf habe ich gründlich kennen gelernt. Arm und reich, gut und schlecht. Alle Stufen folgen. Nicht, daß ich den Eltern etwas zur Last legen will. Sie verstanden es nicht besser! Meinen Vater habe ich stets geliebt, so wie er mich. Wie sollte ich denn nicht zufrieden sein. Leider haben die Eltern es nicht mehr erfahren. Sie würden meinen Erfolg mit Anerkennung konstatieren. Bin ich doch auch Ehrenbürger der Stadt Tapiau geworden! Was will man noch mehr! Selbst der Ehrgeiz meiner Mutter wäre vollständig befriedigt worden.


Berlin, 8. Mai 1925

LOVIS CORINTH

Quelle:
Corinth, Lovis: Selbstbiographie. Leipzig: Hirzel, 1926., S. 183-193.
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