Unterricht

[68] Ich weiß es nicht, ob Senff gleich mit der Absicht und vielleicht gerade deshalb in unser Haus gekommen war, um sich fortan der Malerei zu widmen, oder ob er, durch das lebhafte Kunstgetriebe, in das er sich versetzt fand, angesteckt, erst zu solchem Entschluß gelangte – kurz, er wollte nun auch Maler werden, zeichnete und malte fortwährend, und indem er uns unterrichtete, genoß er gleichzeitig die Unterweisung meines Vaters. Mit bewundernswürdigem Eifer arbeitete er den ganzen Tag, zugleich lehrend und lernend unter uns Kindern, und sein langer Malstock, mit welchem er, hinter der Staffelei vorlangend, jeden erreichen konnte, erinnerte die Träumer ans Aufmerken.

Senffs Unterrichtsmethode war, soweit ich mich ihrer entsinne, die Pestalozzi-Krugsche, wobei es weniger darauf ankommen sollte, daß man was lernte, als vielmehr auf die Art und Weise, wie dies geschah. Das Lernen war zu seinem eigenen Gegenstand geworden, und die[68] formale Kopfbildung sollte den Fachkenntnissen voraus oder doch wenigstens Hand in Hand mit ihnen gehen. Man hatte den Weg der älteren Schule, von der Praxis zur Theorie, vom Glauben zur Einsicht verlassen und experimentierte nun einmal zur Abwechslung von der verkehrten Seite; denn nichts schien rationeller, als vorerst das Gefäß zu formen, ehe der Inhalt eingeschüttet wurde.

Wie naturwidrig diese Methode und wie gefährlich sie in ihren Konsequenzen sei, mochten damals nur wenige begreifen, weil es an Erfahrungen fehlte. Es huldigten ihr die besten Köpfe, und nach alter Weise zu unterrichten, wäre philiströs gewesen. So hatte ich denn nun damit zu beginnen, vorerst das schon Gewußte zu vergessen und es mir unter der Zucht der neuen Methode von neuem anzueignen. Denn daß einer etwa lesen konnte, schien unstatthaft, bevor er das Sprechen begriffen hätte, und selbst das Sprechen wertlos ohne die nötige Kunde von der Entstehung der einzelnen Sprachlaute.

Es gab daher nicht wenig zu beschaffen und zu begreifen, ehe es möglich wurde, den eigentlichen Leseunterricht zu beginnen. Lehrer und Schüler sperrten gegenseitig die Mäuler auf, ersterer, um anschaulich zu machen, wie und auf welche Weise er schnurrend, zischend, säuselnd oder schnalzend die Zunge lege, letztere, um dem prüfenden Auge des Lehrers die nötige Einsicht in ihre respektiven Sprachwerkstätten zu gestatten. Je nachdem nun Zunge, Zähne, Lippen oder Gaumen tätig waren, wurden die produzierten Konsonanten auch benannt als »Zisch-, Schnurr- und Säusellaut, Lippen-, Zahn-, Gaumenschluß« usw.

So schnurrten, säuselten und zischten wir denn ein ander an wie Schlangen und waren so eingenommen von dieser Sache, daß uns nichts abgeschmackter und altmodischer vorkam als das Buchstabieren der älteren Schule. Ich prahlte daher auch gegen meine Freunde, die in ordinären Schulen waren, mit Schnurrlauten und Gaumenschlüssen und achtete es wenig, wenn Ludwig Engelhard und Fritz Pezold mich damit auslachten.

Wenn nun freilich auf diese Weise mancherlei begriffen wurde, ohne Buchstabieren und Syllabieren jedoch ein fester Grund in der Rechtschreibung nicht gelegt werden konnte, so schien die neue Lehrweise doch ganz besonders beim Rechnen angebracht, das seiner Natur nach jeden Dogmatismus ausschließt. Wir rechneten bloß im Kopf. Schriftliches Rechnen war als undurchsichtiger Schematismus fürs erste ausgeschlossen. Nichts wurde angenommen, bevor es eingesehen war, und selbst das Einmaleins lernten wir nicht eher auswendig, als bis wir's ausgerechnet und uns überzeugt hatten, daß es sich wirklich so verhalte.

Wo wir der Anschauung bedurften, bediente Senff sich sehr zweckmäßiger,[69] von ihm selbst erfundener Rechenklötze, welche, zu verschiedenen Größen abgeteilt, die nötigen Beweise lieferten. Auch spielten und bauten wir in Freistunden mit solchen Rechensteinen, so daß die arithmetischen Proportionen sich uns auf alle Weise einprägten. Unter ihrem Bilde, und nicht der Ziffern, schwebten mir denn auch immer die Zahlengrößen vor. Ich rechnete nach gedachten Klötzen, eine treffliche Methode, die mich bald in den Stand setzte, ziemlich verwickelte Aufgaben mit Schnelligkeit zu lösen und für meine Jahre Ungewöhnliches zu leisten. Dies war indessen nur ein Resultat zweckmäßiger Unterweisung, denn die natürliche Befähigung zum Rechnen fehlte mir; sie war mir eben nur eingepflanzt und verschwand wieder, wie ein Pilz, der über Nacht gewachsen ist.

Ich weiß es nicht, ob es zu rasch gesteigerte Anforderungen waren, an denen ich erlahmte, oder ob meine Natur eine Tätigkeit, die ihr nicht adäquat war, nur bis zu einem gewissen Grade ertragen konnte – kurz, nach einem heftigen Auftritt in der Rechenstunde schleppte unser Informator mich beim Kragen in das Atelier des Vaters, laut klagend, daß der dumme Junge nun plötzlich nicht mehr wisse, wieviel einmal eins sei.

Das war nur allzu wahr. Ich hatte mich in einer schwierigen Aufgabe dergestalt verwickelt und verfangen, daß ich mich plötzlich in den allereinfachsten Zahlenverhältnissen nicht mehr zu orientieren vermochte. Und so blieb es; ich faßte gegen das Kopfrechnen einen unüberwindlichen Abscheu, wurde damit nicht weiter gequält und zu der Mechanik des Zifferrechnens übergeführt, worin ich jedoch nur sehr geringe Fortschritte machte.

Inzwischen wurde auch das Lateinische angefangen, Geschichte, Geographie und Naturgeschichte betrieben. Doch muß ich zu meiner Schande bekennen, daß es mir damals ziemlich einerlei war, wie die Römer ihre Tische benannt hatten, ob mensa oder anders, ob Sardanapal ein Weichling oder ein Held gewesen, ob die Erde eine Scheibe, eine Kugel oder ein Triangel sei, und ob die Fische ihre Jungen säugten oder mit Kuhmilch auferzögen. Mit einem Wort, es fehlte mir an Wißbegierde, und am liebsten hätte ich den ganzen Tag gezeichnet oder andere praktische Dinge getrieben, bei denen doch etwas herauskam.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 68-70.
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