Die Angersche Schule

[201] Als wir von Hummelshayn zurückgekehrt waren, fanden mein Bruder und ich uns sogleich wieder in jenem eigentümlichen Gedränge bunten Lehrerwechsels, der wie ein Schicksal an unserer Jugend haftete. Fürs erste hatte man uns von neuem den Unterricht im Schönbergschen Hause teilen lassen, aber nur auf kurze Zeit, da der Magister Schulz ein Pfarramt annahm und Freund August der Schnepfentaler Anstalt übergeben wurde. Hierauf ein abermaliger Durchgang durch das Haansche Institut, bis wir aus vergessenen Gründen auch von dort wieder weggenommen und der in nächster Nähe gelegenen Neustädter Rektorschule übergeben wurden.

Das gute Ansehen, in welchem diese Schule stand, dankte sie dem Talente und Verdienste des derzeitigen Rektors Anger, eines trefflichen Schulmannes, dessen Liebenswürdigkeit und natürliche Würde zwanglose Disziplin hielt. Die Schüler wurden im Lateinischen bis zur Quarta, wohl auch zur Tertia der Gymnasien gefördert, während der Standpunkt dieser Gymnasialklassen in den Realien überschritten wurde.

Der Religionsunterricht, vom Rektor selbst erteilt, ward jeden Morgen mit einem Choral eröffnet, welchen der musikalische Mann auf der wohlklingenden Schulorgel zu begleiten und mit einem Vorspiel einzuleiten pflegte. Diese Präludien waren jedenfalls das beste an der Sache; es waren freie die Ausdehnung gewöhnlicher Vorspiele weit überschreitende Phantasien, in welche der Spielende die ganze Fülle seiner religiösen Empfindung ausströmte, und zwar so gründlich, daß für den darauffolgenden Unterricht davon nichts mehr übrig zu bleiben schien.

Was Anger uns lehrte, war weniger Christentum als vielmehr Angertum. Zwar wurde jedem Vortrag ein Kapitel aus den Evangelien zugrunde gelegt, nicht aber als Glaubensbasis, sondern wunderlicherweise als Gegenstand einer das Verständnis der Klasse weit überbietenden Kritik, welche ermitteln sollte, was in dem verlesenen Abschnitt Wahrheit, was temporärer und lokaler Glaube, und was offenbarer Unverstand sei. Als Wahrheit blieb dann eigentlich nur das zurück, was sich für jedermann, der sich nicht gerade Ohrfeigen zuziehen will, von selbst versteht.

Es trat mir hier zum ersten Male in meinem Leben der nackteste Rationalismus ohne alle Heuchelei mit offenem Visier entgegen; ich erkannte[202] aufs deutlichste den Unterschied zwischen dem Bekenntnis meiner Mutter und dem Bekenntnis Angers und fühlte mich zu sehr entschiedenem Widerspruch aufgeregt, den ich mich denn auch gelegentlich nicht enthalten konnte laut werden zu lassen.

Mein lieber Anger – ich kann nicht leugnen, daß ich ihn trotz seiner Neologie noch heute lieb habe – pflegte in seinen Religionsvorträgen nicht selten naturgeschichtliche, physikalische und physiologische Exkursionen zu machen, um uns zu zeigen, was sein könne und was nicht. So hatte er uns einmal die Lebensbedingungen des menschlichen Körpers und die Veränderungen geschildert, welchen derselbe im Tode unterworfen sei, um die Unmöglichkeit zu erweisen, wirklich Totes wiederzubeleben. Da trieb mich's auf von meinem Sitze, und so verlegen ich auch war, brachte ich's doch glücklich heraus, daß, was vor Menschen unmöglich sei, doch wohl dem allmächtigen Gott gelingen möge, und ob denn Christus nicht auferstanden sei?

Ein beifälliges Gemurmel ging durch die Klasse, und der arme Rektor mochte in einiger Verlegenheit sein, da er trotz des herrschenden Rationalismus doch so weit nicht gehen durfte, die Auferstehung Christi vor Schulkindern zu leugnen. Was er erwiderte, weiß ich nicht mehr, mochte es auch nicht verstanden haben. Vielleicht sagte er, daß ein erwiesenes Wunder wie dieses allerdings nicht zu bezweifeln sei, daß aber der großen Unkenntnis alter Zeiten manches als Wunder erschienen sein möchte, was ganz natürlich oder vielleicht auch gar nicht zugegangen sei und bloß auf superstitiösem Hörensagen beruht haben möge. Jedenfalls nahm er mir dergleichen Einwürfe nicht übel und blieb mir immer freundlich.

Mit besserem Erfolg als die Religion behandelte Anger die übrigen Zweige seines Unterrichtes, namentlich Physik und Geometrie, die meine Lieblingsdisziplinen wurden. Die geometrischen Wahrheiten ließ er uns, wie ehedem Senff die arithmetischen, soviel als möglich selbständig finden und regte uns überdem noch durch Privataufgaben zu eigenem Forschen an. Daß ich damals die Quadratur des Zirkels nicht erfunden habe, war nicht meine Schuld; gebrütet habe ich sehr viel darüber. Einmal erlaubte ich mir sogar recht triumphierend in der Schule zu erscheinen, weil ich endlich das Problem gelöst zu haben glaubte. Ich war auf den ingeniösen Gedanken geraten, einen Zwirnsfaden genau um einen pappernen Zylinder zu passen und dann denselben Faden mittelst Stecknadeln in ein Quadrat zu spannen. Das Quadrat war leicht zu messen, und es ergab sich daraus, daß ein Zirkel von soundso viel Diagonaldurchmesser soundso viel Quadratmaß halten müsse. Ich wurde aber nur ausgelacht mit meinem Fündlein.[203]

Ganz besonders und vorzugsweise interessierte mich die Physik, welche Anger auf so klare Weise vortrug, daß mir das damals Erkannte großenteils noch heute geläufig ist. Hierzu mochte der Umstand helfen, daß die Schule ohne allen physikalischen Apparat war. Der Lehrer war genötigt, die fehlenden Instrumente in allen ihren Teilen scharf und genau an die Schultafel zu zeichnen, und indem ich sie nachzeichnete, begriff ich sie vollständiger, als dies durch das Anschauen wirklicher Maschinen gelingen mochte. Durch so erlangte Einsicht fand ich mich befähigt, mir mancherlei Instrumente selbst anzufertigen und dann für mich das in der Schule Erlernte zu erproben. Ich studierte die Schwingungen des Pendels und der Darmsaiten, machte Versuche mit der Chladnischen Tafel, fabrizierte eine Wasserwaage aus Wachs und brachte aus Pappe, Stanniol und Pech einen Elektrophor zustande, der so wohl geriet, daß ich ihn mit Ehren in der Schule präsentieren konnte.

Da nun mein Vater sah, mit welchem Eifer ich diesen Studien nachhing, schenkte er mir eine kleine veritable Elektrisiermaschine. O welch ein Glück war das! Ich vergaß darüber sogar den Kosakensäbel und frappierte die ganze Hausgenossenschaft, von den Eltern an bis hinab auf Talkenberg, der wieder Stiefel putzte, durch derbe elektrische Schläge. Den Apparat vervollständigte ich von Tag zu Tag, machte ganze Batterien von Leidener Flaschen, Blitztafeln, Isolierschemel und dergleichen und gab Vorstellungen, die auch die Großen mit ihrer Gegenwart zu verherrlichen geruhten.

Endlich ward durch das Interesse, welches alle an diesen Wundern nahmen, auch unser Hausarzt, Dr. Pönitz, bewogen, mit seinem reichen Apparate bei uns zu experimentieren. Da sah ich die erste Voltasche Säule und spürte ihre Zauberwirkung, ich lernte die Kräfte des Magnetes kennen, sah Stahlfedern Sauerstoff verbrennen und mehr dergleichen Sonderbarkeiten. Es entstanden mannigfache Fragen, und wenig fehlte, so hätte ich mich entschlossen, mein künftiges Leben gänzlich dem Studium der Naturkräfte zu widmen.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 201-204.
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