Die Hausväter

[353] Als ich bei Roller eintrat, verzehrte dieser gerade seine Morgensuppe, wie gewöhnlich in Wasser aufgeweichtes Schwarzbrot mit fetter Milch. Ich hatte angeklopft und er Herein gerufen, doch schien er meinen Eintritt nicht zu beachten. Ich konnte warten. Als er endlich aufblickte und mich gewahrte, legte er den Blechlöffel aus der Hand und starrte mich wie einen Geist an.

Darauf entspann sich folgendes Gespräch: Roller: »Unde?« Ich: »Dresdis.« Roller: »Bene!« Und jetzt in Lachen ausbrechend, schritt der alte Freund unter mehrfach wiederholtem Bene auf mich zu,[353] schloß mich in seine Arme und sagte: »Du bist ein früher Mann, aber jederzeit willkommen! Hast du gefrühstückt?« Auf meine Verneinung stieß er das sogenannte Gatter mit dem Fuße auf und schrie hinunter: »Holla! Schwimm ist da! Bringt Kaffee! – Und nun, mi fili! wie lange bleibst du?«

Ich übergab meinen Brief, und Roller trat ans Fenster, um zu lesen. Es war ein peinlicher Augenblick. Mir grauste vor allen weiteren Auseinandersetzungen, namentlich mit diesem Manne, von dem ich annahm, daß er von Herzensangelegenheiten die bäuerischsten Begriffe habe. Er las langsam und bedächtig, schloß den Brief dann weg und zündete sich eine Pfeife Tabak an. Endlich begann er: »Dein Vater«, sagte er, »hat mir alles geschrieben. Es ist dir gegangen wie anderen Leuten auch, und brauchst dich deshalb weder zu schämen noch zu grämen. Jonathan soll noch heute nach der Stadt und deine Sachen holen, denn daß du bei mir bleibst, steht fest und ist zugleich das Beste bei der Sache.« Übrigens, fügte er hinzu, käme ich ihm heute gerade recht, denn nachmittags habe er die Hausväter, und da könne ich auch mit nach dem Rechten sehen.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wußte nun, daß Roller über diese Angelegenheit nie wieder ein Wort verlieren werde, und setzte mich sehr erleichtert an meinen Kaffee, hielt auch den Moment jetzt für den rechten, das Gebot des Vaters einmal zu übertreten und eine Pfeife übers Maß zu rauchen. Roller war derselben Ansicht und erteilte mir sogar Dispens für alle weiteren Überschreitungen, da man in seinem Hause nach seiner Regel lebe und Nichtraucher ihm lästig seien.

Mit den obenberegten Hausvätern aber hatte es folgende Bewandtnis. Roller pflegte nämlich die sämtlichen Mitglieder seiner Gemeinde regelmäßig zweimal im Jahre bei sich zu sehen, und zwar in einzelnen Abteilungen. Hausväter, Hausmütter, Junggesellen, Jungfrauen und Schulkinder: jede dieser Klassen ward besonders eingeladen. Im Sommer ging man ins Freie, im Winter war Zimmerunterhaltung, welche letztere denn auch heute mit den Hausvätern stattfinden sollte. Zu diesem Zwecke richteten wir schon am Vormittage die große Unterstube her. Alle transportabeln Möbel wurden ausgeräumt, rings um die Wände Schulbänke gestellt und ein Fäßchen Bier mit angestecktem Kran auf Böcke gelegt. Inmitten des Zimmers aber stand ein großer Tisch mit diversen Holzschachteln, über deren Zweck sich Roller nicht erklärte.

Zur festgesetzten Stunde fanden sich die Gäste in Fülle ein: Bauern, Gärtner, Handwerker und Arbeitsleute, alle in langen Röcken, hohen Stiefeln und mit runden Kämmen in den Haaren. Der Hausherr hatte[354] für jeden ein paar joviale Worte der Begrüßung, einen deutschen Händedruck und eine Tonpfeife. Dann wurde Platz genommen: obenan die Bauern und so weiter nach Stand und Ansehen. Was mich anlangte, so schien es mir, daß ich in dieser geschlossenen Gesellschaft nur als Bierzapfer Zutritt finden könne, daher ich mich ans Faß placierte, allwo ich zapfte und kredenzte, die vollen Krüge weitergehen ließ und die leeren zurückempfing. Der Pastor aber saß am Tische und trug vorerst das Neueste aus der Missionsgeschichte vor. Dann fragte er einzelne nach ihrer Meinung oder forderte sie je nach ihrem Gewerbe zu technischer Erläuterung auf, so daß bald ein allgemeines, sehr lebhaftes Gespräch im Gange war, das Roller mit Geschick zu leiten wußte. Dazu floß und schäumte immerdar mein Bierquell, und die Seltsamkeit der ganzen Sache unterhielt mich dergestalt, daß ich meines Herzenskummers kaum gedachte. Ja es hätte heute für mich nichts Besseres erfunden werden können als diese Bauerngesellschaft, die zwar nichts von Goethe und von Shakespeare wußte, beide aber und namentlich den letzteren gewißlich mehr befriedigt haben würde als manche belletristische Reunion der Hauptstadt. Es steckte damals noch eine Fülle guter und gesunder Anschauungen im deutschen Landvolk, eine ehrenfeste Gesinnung und salzvolle Ausdrucksweise, die in dem Aufkläricht der Neuzeit immer mehr dahinschwinden.

Endlich war mein Fäßchen ausgelaufen, und es erfolgte der zweite Akt der Ergötzlichkeiten. Roller hatte sich ein Vergnügen ausgedacht, von dem man schwerlich glauben sollte, daß es dem Geschmacke so ehrbarer und massiver Gäste zugesagt hätte. Die Schachteln auf dem Tische wurden jetzt geöffnet und ein paar Hundert hölzerner Soldaten herausgelangt, die ich nach Rollers Anweisung in Schlachtordnung aufzustellen hatte. Danach schoß oder warf man mit einer Bleikugel, die zu meiner und der Bauern stiller Verwunderung von Anfang an wie eine Kreuzspinne an einem Faden über dem Tische geschwebt hatte. Zwei Partien spielten gegeneinander, und zwar um gebackene Pflaumen, deren ein halber Scheffelsack voll zur Disposition stand. Die Finessen dieses Spieles sind mir in der Länge der Zeit entfallen, das aber weiß ich noch, daß man sich über die Maßen belustigte und die Bauern derben Witz entfalteten, an jedem ungeschickten Wurf Veranlassung nehmend, sich gegenseitig zu persiflieren. Roller selbst nahm als Kombattant nicht teil an diesem Kriege, sondern begnügte sich, an einem Strohhalm kauend (wie Wellington bei Waterloo), die Schlacht zu kommandieren und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Nach einem halben Stündchen waren die Soldaten alle tot, und, die Taschen voll gebackener Pflaumen, zogen die Hausväter sich sehr bedankend, wieder ab.[355]

»Sie haben sich gefreut«, sagte Roller, »daß du ihnen Bier zapftest, und wo sie dir begegnen, wird's im guten sein, da Stadtleute auf dem Lande sonst nicht wohl angesehen sind wegen ihres Hochmutes.«

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 353-356.
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