Ich werde clairvoyant

[385] Ungewißheit und Zweifel ermüden mehr als wirkliche Strapazen. Da ich nun wußte, wo ich war, und ein nahes Ziel vor Augen hatte, kehrten auch die Kräfte wieder, und ich wollte auf der Stelle weiter. Doch riet der Wirt, einen Boten mitzunehmen, wenigstens bis zu einer gewissen Stelle, von wo aus man nicht mehr irren könne, und versprach mir, einen aufzutreiben. Bis er erschien, erquickte ich mich mit Butterbrot und Bier; dann brachen wir selbander auf. Mein Führer war ein langer, schlotteriger Kerl mit herabhängendem Hosenboden und versoffenem Antlitz. Vor allen Dingen hatte er einen Schnaps auf den Weg verlangt, den ich ihm auch angedeihen ließ, indem ich mir zugleich selbst ein Glas davon in jeden Stiefel goß – ein herrliches Mittel, um ganz erschöpfte Kräfte noch für kurze Zeit zu spannen.[385]

Durch die Rast im Wirtshaus, den Aquavit im Stiefel und die freudige Aussicht, nun bald und sicher bei Oheim und Muhme einzutreffen, war ich wie neugeboren. Ich schritt wieder rüstig in den dunkelnden Wald hinein und amüsierte mich an den Geschichten meines Führers, der durch das letzte Schnäpschen, das schon eine gute Grundlage gefunden haben mochte, ganz begeistert war. Namentlich erinnerte er sich der Kriegszeiten und seiner Fahrten mit den Russen, deren Charakter er sehr lobte. Ganze Kerle wären das gewesen, das müsse er sagen, und hätten gewußt, wo Barthel Most holt; aber die Wege hier im Holze hätten sie doch nicht gewußt. Da hätten sie ihn denn auf ein Pferd gesetzt, ihm einen Sarraß angehangen und sich von ihm anführen lassen. Wie ein General hätte er sich ausgenommen und manches Kopfstück verdient, denn das Geld hätten sie sich nicht dauern lassen.

Da ich mich nun verlauten ließ, daß ich auch so etwas wie ein Russe sei, fiel mir der Schlingel plötzlich um den Hals. »Landsmann!« schrie er, »nun laufe ich mit dir hin bis Hummelshayn, und sollte ich auch die ganze Grummeternte darum verlieren!« Ich erwiderte, daß, wenn er mich etwa Sie nennen wollte, so nähme ich's auch nicht übel. – Ich wollte ihn wohl nicht anerkennen? – Als Duzbruder nicht, sagte ich, sonst wollten wir ja gute Landsleute und Freunde bleiben.

»Ja!« seufzte jener, »die Art kann einer schon gebrauchen. Sehen Sie, Herr Landsmann! Ich habe Malheur gehabt, wie man zu sagen pflegt: ein bißchen Holz gelesen – kann sein, daß was Grünes mit untergelaufen ist – und dafür eine Tracht Stockprügel auf den nächsten Freitag. Die könnten Sie mir abnehmen, Herr Baron!« Erklärend setzte er hinzu, weil der Herr Oberforstmeister doch meine Freundschaft wären, so könnte ich vielleicht ein gutes Werk tun für einen unglücklichen Familienvater. Ich versprach, mich für ihn zu verwenden.

Unter solchen Reden waren wir durch dick und dünn auf schmalem Fußweg an einen Durchhau gelangt, der sich in schnurgerader Richtung weithin durch den Wald zog. Hier machte der Landsmann Halt, erklärend, dies sei der Punkt, bis zu welchem er sich verdungen habe. Ich solle nur immer auf der Blöße bleiben, so würde ich in einer kleinen halben Stunde an den Hetzgarten anrennen. Ich erwiderte, er habe mir ja versprochen, mich bis Hummelshayn zu bringen! Aber er verschwor sich hoch und teuer, daß er für seinen Herrn Landsmann schon ein übriges getan, jetzt aber keine Zeit mehr habe. Ich bot doppelten Lohn. Umsonst, er war nicht zu bewegen. Fehlen, sagte er, könne kein Teufel in solcher Rinne von Durchhau, auch nicht der Dümmste! Er aber müsse retour, käme morgen früh sonst nicht zu rechter Zeit ins Grummet.

Wahrscheinlich hatte dieser Russe sich in seiner Branntweinbegeisterung[386] selbst verlaufen, und es mochte ihm der akkordierte Lohn daher viel lieber sein als gar nichts. Ich mußte ihn auszahlen und laufen lassen, wenn er es nicht vorzog, unter dem nächsten Busche auszuschlafen. Nichtsdestoweniger legte ich später die versprochene Fürbitte noch für ihn ein, wiewohl umsonst, denn er war ein liederlicher Strick und höchst verrufener Holzdieb, dem nach Ansicht vernünftiger Leute nichts nachteiliger gewesen wäre als Nachsicht.

Ich war also nun wieder einmal allein im wilden Walde; aber das schöne Sprichwort »beatus qui solus«, das mir heute morgen so verständlich gewesen, leuchtete mir jetzt minder ein. Zweifelnd, ob jener zweideutige Kerl mich auch recht gewiesen, setzte ich meinen Marsch in der angegebenen Richtung fort; aber es verging ein halbes Stündchen nach dem anderen, und der ersehnte Hetzgarten wollte immer noch nicht erscheinen. Dazu war die Branntweinkraft in den Stiefeln verdampft, die Füße waren wund und über die Maßen schmerzhaft, und der Ranzen auf dem Rücken lastete wie ein Gebirge. Freilich blinkten auch heute wieder die freundlichen Sterne auf mich nieder wie gestern abend, aber ich beachtete sie nicht; es war mir gleichgültig, wie sie hießen, und ob das Ronneburger Mädchen ihren Liebling darunter hatte oder nicht. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken, nämlich, daß der Hetzgarten erscheinen möchte, ehe ich, wie jene mir vorausgesagt, am Boden läge.

Dieser Wunsch ging niemals in Erfüllung. Der Durchhau, in welchem ich bis dahin fortgekrochen, nahm zwar sein Ende, aber nicht der Wald. Ich war in einen Sack geraten, ohne Spur von Ausweg. Nach solchem suchend, schleppte ich mich vergebens am Dickicht hin – doch überall die gleichen Stämme, das gleiche Heidekraut, die gleiche Finsternis.

Was sollte nun werden? Wäre ich bei Kräften gewesen, so hätte ich mich vielleicht nach dem letztverlassenen Dorfe zurückgefunden. Aber seit vierundzwanzig Stunden fast ununterbrochen auf den Füßen, ohne Schlaf und ordentliche Nahrung, war ich wie ein verlöschendes Licht. Es war mir unmöglich, mich länger aufrechtzuhalten, und ich beschloß daher oder glaubte vielmehr, mich darein ergeben zu müssen, die Nacht da zuzubringen, wo ich mich befand. Dann aber auch zurück, und zwar weiter als bis zur letzten Schenke! Ich war in miserabler Stimmung, zwar resigniert, aber keineswegs ergeben in Gottes Fügung. Es war ein böser Trotz der Schwäche, der sich meiner bemächtigt hatte und mich mit Bitterkeit erfüllte. Was habe ich für einen Beruf, so dachte ich, mit Aufopferung meines Lebens dies alberne Hummelshayn zu suchen, auf das sich ohne Zweifel der Teufel gesetzt hat, es zu verdecken? Möge es denn unter seinen angenehmen Schleiern bleiben, wo es bleibt; ich wenigstens werde es nicht weiter suchen. Soll ich[387] hier sterben, muß ich's leiden; lebe ich aber morgen noch und kann mich rühren, so gehe ich geradeswegs zurück nach Dresden, und Ziegesars werden dann zu spät erfahren, welche Freude ihnen entgangen ist.

Mein Gepäck abstreifend, kroch ich unter die weit ausgestreckten Fächer einer alten Fichte, zog den Ranzen unter den Kopf und, nichts fürchtend, nichts hoffend und nichts denkend, doch im Genusse einer tiefen, wohltuenden Ruhe, lag ich wie ein Toter da. Auch möchte ein solcher aus mir geworden sein, denn ich war heiß vom Gehen, leicht gekleidet und ohne Mantel – aber jetzt trug sich etwas so Außerordentliches zu, daß ich noch heute eine genügende Erklärung nicht zu finden weiß.

Einer totenähnlichen Ruhe hingegeben, wie man sie etwa nach eingetretener Ohnmacht empfindet, mochte ich etwa zehn Minuten lang dagelegen haben, als eine eigentümliche Veränderung mit mir vorging. Obgleich ich nicht geschlafen, hatte ich dennoch die süße Empfindung allmählichen Erwachens, und es war, als würde mir ein Schleier abgezogen, der mir bis dahin längst Bekanntes verborgen hatte. Die nächtlichen, mich zunächst umgebenden Gegenstände erschienen mir plötzlich so heimisch, wie sie es den Kreuzschnäbeln und Finken sein mochten, die hier genistet hatten. Ich war kein Fremder mehr in dieser Wildnis; ich kannte alles, die alten Wurzeln an meiner Seite, ja ganz speziell die einzelnen Grashalme und Steine, zwischen denen ich lagerte. Und weiterhin der dunkle Wacholder und jener tot herabhängende Ast voll Moos und Flechten – ich wußte, daß das alles da sein mußte.

Daß ich an dieser Stelle vielleicht schon als Kind gewesen, ist nicht unmöglich, doch entsann ich mich dessen nicht; auch würde diese Annahme weder die genaue Kenntnis alles einzelnen noch überhaupt meinen Zustand erklären, der ein durchaus ungewöhnlicher und abnormer war. Vorübergehende Momente hat wohl jeder, daß ihm eine neue Situation als wohlbekannt und längst erlebt erscheint; so ähnlich war's mit mir, nur daß die Illusion eine längere Dauer hatte. Natürlich wußte ich jetzt auch, wohin ich mich zu wenden hatte, um nach Hummelshayn zu kommen, und fühlte Kraft und Mut, es noch heute zu erreichen.

Erquickt und neu belebt erhob ich mich wie nach einem guten Schlafe, griff nach dem Ranzen und setzte mich wieder in Bewegung. Weg und Steg waren freilich jetzt ebensowenig vorhanden als früher, auch sah ich mich gar nicht danach um. Quer ging's durchs Holz von einem bekannten Ding zum andern, und immer wußte ich, daß ich recht ging. Die wunden Füße nicht beachtend, durchschritt ich den finstern, weglosen Wald mit solcher Sicherheit, als wären es die wohlbekannten Räume der väterlichen Wohnung gewesen.[388]

Wie lange ich so gewandert, weiß ich nicht, aber endlich brach der Wald ab, ich trat ins Freie, und ohne die geringste Überraschung sah ich die nächtlichen Umrisse des langersehnten Schlosses vor mir mit der Kirche und den anliegenden Gebäuden. Aber nicht, wie ich gesollt hätte, von der Altenburger Seite, sondern von der entgegengesetzten, auf dem Wege, der von Kahla kommt, gelangte ich in den Schloßhof. Die Verwandten, die eben im Begriff waren, sich schlafen zu legen, erschraken vor meinem geisterhaften Anblick und hörten mit Erstaunen den Bericht von meinen Abenteuern. Sie erquickten mich mit dem Besten, was sie hatten, und so aufgeregt war ich von Freude, daß ich schließlich mit Gewalt ins Bett getrieben werden mußte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 385-389.
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