Der Aktsaal

[406] Noch im Laufe dieses Winters ward ich in den Aktsaal befördert, wenn auch vorläufig nur für den Abend, da ich im übrigen meine Studien nach Gips noch fortzusetzen hatte. Ich glich somit einem nur unvollkommen ausgekrochenen Insekt; doch kümmerte mich die Puppe wenig, die mir noch anhing, und ich freute mich der Standeserhöhung, wenn auch diesmal ohne sonderlichen Hochmut, da ich mir der Schwierigkeiten, die meiner warteten, jetzt deutlicher bewußt war als früher bei meinem Eintritt in die unteren Klassen.

Im Aktsaal fand ich mich in einer neuen Welt: andere Genossen, andere Gegenstände und eine andere Art, zu arbeiten. War ich bis dahin gewissermaßen nur im Scheibenschießen geübt worden, so galt es jetzt bewegten Gegenständen. Es handelte sich hier nicht mehr darum, überaus geduldige Gipsköpfe abzusenkeln, auszumessen und unter traulichen Gesprächen[406] beliebige Zeit auf ihre Nachbildung zu verwenden – die lebendige Natur gestattete nur kurze Gnadenzeit und wollte im Fluge erhascht sein. Freilich brauchte man mit seiner Arbeit nicht weiterzukommen, als man eben kam, doch wollte natürlich jeder aus jeder Stellung den größtmöglichen Gewinn ziehen, und es ward daher im Aktsaal mit jenem Eifer gearbeitet, der allem Naturstudium eigen ist.

Das Lokal für diese Übungen war ein weiter, von drei amphitheatralisch aufsteigenden Sitzreihen halbkreisförmig eingefaßter Raum, in dessen Mitte das hellerleuchtete Modell als Zielscheibe für dreißig bis vierzig Schützen stand, deren Blicke rastlos auf und nieder flogen, vom Reißbrett zum Modell und vom Modell zum Reißbrett; und was die Augen eingetragen, das speicherte die Hand auf. Gesprochen und beraten, wie im Gipssaal, ward dabei kein Wort, und außer dem Rasseln der Kohlen- und Kreidestifte und dem Rauschen der Wischer war nichts zu hören als die halblaute Rede des korrigierenden Professors, der, sich von einem Platze zum andern schiebend, stets zugegen blieb. Auch er hatte zu arbeiten, daß ihm der Schweiß von der Stirne floß, wenn er alle die mehr oder weniger verrenkten Gliedmaßen unserer Zeichnungen je nach seiner Einsicht entweder wiedereinrenken oder vollends verdrehen wollte.

Die Professoren waren dieselben, unter deren heroischen Korrekturen ich schon im Gipssaale zu leiden hatte, mit Ausnahme jedoch von zweien: des Direktors Hartmann und des Galerie-Inspektors Matthäi, bis dahin die beiden hervorragendsten Lehrer der Akademie. Dies galt vorzüglich von Matthäi, der mit der Gabe, zu unterweisen, ungewöhnliche Kenntnisse verband und ein Zeichner ganz ohnegleichen war. Seine meisterhaften Korrekturen wurden als Mirabilia angestaunt, und alle Plätze füllten sich, wenn er den Monat hatte. Ihn korrigieren zu sehen, war aber auch ein Vergnügen, welches recht ausführlich zu genießen man sich mit Fleiß verzeichnet hätte, wenn die unwillkürlich begangenen Fehler an sich nicht schon immer vollkommen ausgereicht hätten.[407]

Matthäi war zu jener Zeit bereits ein Mann bei Jahren und mit einem so auffallenden Zittern der Hand behaftet, daß man ihm die Fähigkeit kaum zugetraut hätte, auch nur einen zollangen, einigermaßen gleichförmigen Strich zustande zu bringen. Auch kostete es ihn immer einigen Kampf, die Kreide zu vermögen, da einzusetzen, wo er und nicht wo sie es wollte; haftete aber der widerspenstige Stift erst einmal am Papier, so setzte er auch nicht wieder ab und folgte dem Willen des alten Meisters aufs überraschendste. Zwar mit immer zitternder Hand, aber doch mit unfehlbar sicherem, zartem und höchst elegantem Striche umfuhr Matthäi in einem einzigen Zuge die ganze Figur, und es war im Umsehen ein die Arbeit des Schülers mannigfaltig durchschneidender Kontur entstanden, welcher die Eigentümlichkeit des jedesmaligen Modells mit spiegelhafter Treue wiedergab.

Nach Feststellung des äußeren Umrisses ging es an die Berichtigung der inneren Formen, namentlich der am wenigsten verstandenen Partien, deren Struktur der Professor stets mit überraschender Klarheit zum Verständnis brachte. Zu dem Ende stellte er in Randzeichnungen zuvörderst den betreffenden Knochenbau, und zwar mit einer Präzision dar, als hätte er das nackte Skelett in gleicher Stellung und Beleuchtung vor Augen gehabt; dann zog er mit leichtem Strich die Muskeln drüber und löste so jedwedes Rätsel. Dergleichen korrigierte Blätter führte man in der Regel nicht weiter aus; sie hatten sich in Originalstudien eines großen Meisters verwandelt und wurden als solche aufbewahrt und wertgehalten.

Als Künstler mochte Matthäi freilich, namentlich was Erfindung und Kolorit anlangte, manchem seiner Zeitgenossen nachstehen; in der technischen Fertigkeit des Zeichnens aber übertraf ihn wahrscheinlich keiner. Ich zweifle wenigstens, daß es außer ihm noch einen anderen Menschen gab, der es vermocht hätte, auch nur den Umriß einer Hand genau und richtig in einem einzigen Zuge hinzuschreiben, so sicher wie ein großes A, geschweige denn eine ganze Gestalt mit Kopf und Rumpf, zwei Armen und zwei Beinen und zwanzig Fingern an Händen und Füßen. Und doch war dies nichts Auswendiggelerntes: es waren keine angewöhnten Formen, sondern die des jedesmaligen Modells in ihrer bestimmtesten Eigentümlichkeit, und wäre zufällig irgend etwas Verkrüppeltes zu sehen gewesen, etwa ein Plattfuß oder krummer Finger, so wären unter der zitternden Hand Matthäis auch solche Deformitäten mit staunenswerter Genauigkeit zu Papier gekommen. Der Natur gegenüber ließ er kein Besserwissen gelten, und hatte sich's einer einfallen lassen, sie zu meistern, so fuhr die Korrektur erbarmungslos hindurch. Bei solcher Gelegenheit hörte ich ihn sagen, es sei nicht zu begreifen, warum man[408] in den Aktsaal käme, wenn man's schon aus dem Kopfe könne. Zu Hause möge jeder zeigen, was er wisse, hier, was er sähe, und man könne schneller zum Chinesen werden, als man dächte.

Diese nüchterne Gewissenhaftigkeit influierte günstig auf alle Klassen, und Matthäi stand als einflußreichster Lehrer unter uns in höchster Achtung. In anderer Hinsicht entging er freilich auch nicht der Kritik der jungen Leute, die sich in ihrem jugendlichen Wesen und Gehaben zu wenig von ihm verstanden fühlten. Auch galt er für den erbittertsten Widersacher unseres Kunstvereins, und nur solche, die sich mit diesem in keinerlei Berührung fanden, schlossen sich ihm als spezielle Schüler an. Später, nach Auflösung jenes Vereins, errichtete er jedoch in seinem Hause eine eigene kleine Sonderakademie, in welche man gegen Honorar eintrat und die sehr besucht gewesen sein soll.

Ungleich beliebter war der joviale, ebenfalls als Künstler hochgeschätzte Direktor der Akademie, Professor Hartmann. Von ihm, als von dem vertrautesten Kunstgenossen meines Vaters, ist weiter oben schon geredet worden; hier will ich nur noch sagen, daß wir Aktsaalschüler seiner Fürsorge damals einen großen und nachhaltigen Genuß zu danken hatten. Es war nämlich zu jener Zeit ein Franzose, namens Lebenier, nach Dresden gekommen, welcher Kunstvorstellungen gab und durch die Schönheit seiner Körperformen die Künstlerwelt alarmierte. Diesen Normalmann zum Nutzen des Aktsaales zu verwenden, setzte Hartmann alle Hebel in Bewegung, und es gelang ihm auch, trotz Lebeniers den Etat weit überschreitender Forderung, die Königliche Intendanz dahin zu vermögen, ihn wenigstens für einige Wochen als Modell zu engagieren. Lebenier stand nun jeden Abend, und der Zulauf war ungeheuer. Nicht nur Schüler, auch Meister drängten sich herzu, die Unbequemlichkeit beschränkter Plätze noch für Wohltat achtend. Der Heros imitierte die Attitüden verschiedener Antiken, und mit begeistertem Feuer fuhren unsere Kreidestifte über das Papier hin, als gälte es, eine vorüberrauschende Offenbarung absoluter Schönheit zu fixieren. Als Lebenier sich endlich in die Position des auf der Keule ruhenden Farnesischen Herkules brachte, erreichte die Begeisterung ihren Gipfel. Das war nicht ähnlich, es war dasselbe. Der griechische Marmor war lebendig geworden, und ich wenigstens begriff erst jetzt die ganze Herrlichkeit des alten Kunstwerks in seiner wunderbaren Naturtreue. Mit größerer Befriedigung hat wahrscheinlich keiner von uns je wieder nach der Natur gezeichnet als dazumal nach jenem Halbgott. Ich träumte nachts von Auerochsen und Titanen und freute mich den ganzen Tag auf die Abendstunden im Aktsaal.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 406-409.
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