74 [69] Brief an Wassily Kandinsky

Sindelsdorf, 22.3.1912


Lieber Kandinsky, Ihr Brief hat mich vollkommen überrascht, – ich dachte gar nicht daran, daß sich unsre gemeinsame Arbeit in einer Sackgasse befinden soll. Sie scheinen gereizt und sehen Mäuse, – verzeihen Sie den Ausdruck und glauben Sie nicht, daß ich Ihren Brief leichtnehme oder den Harmlosen spiele. Ich fühle tatsächlich in mir nichts von dem veränderten Ton, den ich Ihnen gegenüber haben soll. Sie betonten im Anfang doch selbst nachdrücklich, daß es gar nicht nötig sei, daß wir immer genau dieselben Meinungen hätten; es wäre auch vollkommen unmöglich bei 2 Menschen mit dem Alters- und Erfahrungsunterschied, die von 2 völlig verschiedenen Punkten aufeinander zugekommen sind und sich nun kaum ein Jahr kennen.

Allerdings basiert bei einem derartigen Verhältnis das Zusammenarbeiten auf gegenseitigem Vertrauen, – Vertrauen zur Qualität der Persönlichkeit des anderen; meinesteils ist dieses Vertrauen jedenfalls unerschüttert. Sie sagen von sich, daß Sie oft nichts sagen mögen und hinterher stets Ihre Nachgiebigkeit zu bereuen haben, – ich kann mir überhaupt nur einen Fall denken, – meine Schätzung der Brücke. (Daß ei nige andere Berliner mit ausstellten, die mir kaum sympathischer waren als Ihnen, kommt zwar auf mein Konto als – Fehler; das gestehe ich gern und offen. Ihnen ging es, glaub ich, mit der Schweiz ähnlich. Der gute Helbig gereicht unserm Kataloge nicht gerade zur Ehre; aber dies alles sind Nebendinge, taktische Fehler, die in unsrer Frage wohl kein Gewicht haben.) Betreff Heckel, Kirchner und Pechstein (vor allem Heckel) sind wir am Ende wirklich uneins; aber ist das ein Unglück? Ich empfinde es als Reiz, keinesfalls als Sackgasse. Auch nicht, daß ich dem Schönberg als Maler nicht die starke Würdigung und Liebe entgegenbringe, als sie, – vielleicht tue ich es ja auch einmal, aber nicht auf den Glockenschlag. Dasselbe gilt von Frl. Münters gegenwärtigen Arbeiten, (nicht etwa die der 1. Blauen Reiter-Ausstellung, die ich sehr liebte). Ich bin unsicher davor, sehe das Ziel nicht klar und habe meine ganz persönlichen Malerbedenken über manche ihrer Mittel. Aber es wäre mir ebenso peinlich, wenn man bei mir hier eine gegnerische oder kritisch ablehnende Stimmung herausfühlte, die absolut nicht existiert, als auch die (Ihnen sicher fremde) Forderung, daß ich mich mit jeder Sache, die mir unter die Augen kommt, nun sofort im Für und Wider auseinandersetzen soll. Wir Maler bleiben schließlich alle einsame[69] Gesellen; jeder hängt seinen Gedanken sehnsüchtig nach und muß sich notwendig oft gegen andres verschließen, um sich nicht zu verlieren. Ich glaube, niemand übt gerade diese Tugend stärker und manchmal auch schroffer als Frl. Münter; ein Zug, der mir vollkommen verständlich und würdig scheint. Warum zerren Sie so delikate Stimmungen und innere Bewegungen an ein völlig falsches Licht mit Ihrem Satz: ›ganz besonders merkwürdig verhielten Sie sich auch zu Ella‹? Sie sind irritiert; ich fühlte es wohl in München; aber mir kam auch nicht der leiseste Gedanke, daß ich resp. unser beider Verhältnis, das mir völlig intakt schien, daran schuld sein könnte, ich war in München beide Male müde und fühlte mich nicht gut; Sie selbst sahen so schlecht und abgespannt aus, daß ich und meine Frau ganz erschraken; wir hielten Sie für überarbeitet. Ich sprach auch davon, wie ich Ihnen helfen könnte, sah aber nicht viel Möglichkeit, vor allem bei meiner Wohnungslosigkeit in München.

Sie schreiben den Satz Ihrer Lebensphilosophie: ›unbestraft darf man sich Menschen nicht nähern‹; ich hätte nichts sehnlicher gewünscht als daß ich Sie von der Umkehr dieses Satzes: ›unbelohnt wird man sich Menschen nicht nähern‹ überzeugte; denn ich habe bis zu diesem Ihrem Brief die schönere Umkehr des Satzes in meinem Verkehr mit Ihnen erlebt. Glauben Sie mir dies bitte. – Sollte ich Sie wirklich ›in ernsten und abstrakten Sachen‹ gehindert haben (oder nur zu hindern versucht haben), Ihren Willen durchzusetzen? Ich tu dies auch, aber dann wie Sie auf eigne Faust, ohne den andern zu nötigen, partout überall mitzutun. Ich bin vielmehr so veranlagt, daß ich großen Respekt davor habe, in die strenge selbsterworbene Ideenwelt eines anderen hineinzutreten und zu tun, wie wenn ich in diesem schönen fremden Garten zu Hause wäre; ich werde im Gegenteil eher zu einem Gegensatz getrieben, – kämpft mein Freund da, kämpfe ich dort, – wir kämpfen doch für dasselbe große Ziel.

Der Ausgangspunkt Ihres Briefes ist, mir ganz unbegreiflicherweise, das Luxus-Titelblatt. Sie drängten mich anfangs, ich soll es zeichnen. Ich tat's ungern, mit dem Gefühl, nicht der Richtige dafür zu sein; ich sagte Ihnen selbst, das weiß ich ganz bestimmt, daß mir meine Zeichnung nicht gefällt; die Ihre mochte ich dann aufrichtig gern, allerdings nicht in der Verstümmelung des H. Schiemann; darum schlug ich (ehe ich wußte, daß man mit Schwarz nicht gut färben kann, ich glaubte, die schwarze Zeichnung fehlte auf den Probebändern) Ihr altes Titelblatt der einfachen Farbgebung wegen vor. Sie schrieben dann, das ginge, weil man die schwarze Platte vom Stock drucken könnte; hier sah ich eine Inkonsequenz; da ja, wenn sich das Schwarz drucken läßt, Sie Ihr neues Titelblatt auch schneiden könnten. Die Arbeit Schiemanns mißlang doch im wesentlichsten dadurch, daß er das Schwarz nicht malen konnte. Mein Titelblatt hielt ich für vornherein für erledigt, nachdem Sie das weitaus[70] bessere gemacht. Ich sagte Ihnen das auch [in] München mehrmals. Nur wollten Sie doch beide von Schiemann des Interesses wegen versuchen lassen. Wie Sie diese harmlose Titelblattfrage ansehen, ist mir in Ihrem Briefe vollkommen schleierhaft. Ich schrieb Ihnen doch schließlich, daß es das gescheiteste wäre, vornehm in Leder zu binden, mit Ihrem Stempel vorne und das Titelblatt innen. Über das süßliche des Atlas waren wir doch einig.

Ich komme mir bei dieser ganzen Schreiberei ganz verrückt vor; wie ein Mann, der auf einmal logisch beweisen soll, daß wenn er ›guten Morgen‹ sagt, daß dies nicht ›guten Abend‹ heißen soll. Denn je länger ich Ihren Brief lese, desto unbegreiflicher wird mir sein Anlaß und sein Sinn; wie wenn es aus dem lautersten blauen Himmel auf einmal zu regnen anfängt. Hoffentlich lassen Sie nicht noch hageln, sondern wieder ein bißchen Sonne scheinen. Ich hätte lieber mündlich über dies alles geredet, als in einem Brief.

Semper idem

Ihr Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 69-71.
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