76 [72] Brief an Wassily Kandinsky

Sindelsdorf, 11.5.1912


Lieber Kandinsky, heute kam aus Augsburg die ersehnte Sendung der 10 Freiexemplare des Bl. Reiters, allerdings ohne die Änderung der letzthin besprochenen Punkte (Tschudiwidmung, ägyptisches Blatt etc.). Ist Piper auf Änderungen nicht mehr eingegangen, oder hat er sie eigenmächtig unterschlagen? Nachdem man vor dem Fait accompli steht, gewöhnt man sich dran, man muß es wenigstens. Der Eindruck des Buches ist doch ein fabelhafter. Ich hatte ein solches Glücksgefühl, es endlich fertig vor mir zu sehen. Eines bin ich auch sicher: Viele Stille im Lande und junge Kräfte werden uns heimlich Dank wissen, sich an dem Buch begeistern und die Welt nach ihm prüfen; könnten das Buch und die kommenden Bände doch zu einem Sachsenspiegel werden für unsre zerrissene Zeit. Ich denke jetzt oft an den 2. Band und habe meine Ideen darüber; ich denke an einen langen Beitrag mit vielen Illustrationen als Niederschlag sehr persönlicher ›Lernjahre‹, die ich jetzt durchmache; kennen Sie den Zustand: es quält uns eine ganz präzise Idee, aber wir kennen sie nicht; wir fühlen aber ganz deutlich, daß sie wesenhaft da ist, in uns sitzt und an uns zerrt, aber wir können nicht darauf kom men, welche es ist. (Ähnlich wie im Traum: man fühlt ihn beim Erwachen ganz genau, aber man kann ihn nicht sagen.) Sie erschrecken vielleicht und sagen sich: ›Das kann gut werden, – er schreibt des langen und breiten über eine Idee, die er nicht kennt.‹ Ich denke doch, es ist ein zeitgemäßes Thema. Das leichtsinnige Volk der Futuristen (Futulisten) soll ein[en] deutschen Kopf kennenlernen, – verzeihen Sie, ich fabuliere: aber versuchen will ich es, Gedanken zu denken, die hinter[72] einem schwarzen Vorhang tanzen. Ich wäre nur gern einmal mit Ihnen gemütlich zusammen um über dies alles und Ihre Pläne zum 2. Buch zu plaudern, – Sie haben gewiß festere als ich ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 72-73.
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