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[112] Hagéville, 1. Nov. 14.


Liebe Maman, heute an ›Allerheiligsten im Felde‹ schicke ich Dir einen kleinen Gruß aus meinem Gärtchen, in dem ich jetzt viel sitze und nachdenke und schreibe. Es ist jetzt der richtige Nachherbst, der ›Altweibersommer‹, wie wir ihn in Bayern nennen, gekommen, Tage von einer melancholischen Stille und unsagbarer Milde, nur vom ewigen Kanondonner im Westen und Süden (Toul-Verdun) durchrollt. Auch in der Nacht zittern die Fenster oft unaufhörlich. Es sind jetzt die schweren Geschütze vor Verdun und Toul, die wir am dumpfen Rollen kennen. Heute war der erste Feldgottesdienst, den wir im Felde erlebten, draußen auf der freien Wiese, bei den Geschützen, da die Kirche als Vorratshaus eingerichtet ist. Ich gehe öfters auf den kleinen Friedhof, der dem Pippinger sehr ähnlich ist. Es ist so merkwürdig und rührend, all die fremden französischen Namen zu lesen, noch aus der 1. Napoleonszeit und früher, mit alten Grabsteinen. Ich dachte heut so lebhaft an Papas kleines Grab, dessen einfache Platte auch an diese Gräber erinnert, und hab ihm in Gedanken einen kleinen Strauß daraufgelegt. Unser Leben hier ist unverändert; ich reite jetzt wieder jeden Tag 1–2 Stunden mein Pferd (einen kräftigen Fuchsen, dem die Ruhe jetzt sehr wohl tut); sonst schreibe und lese ich und gehe stundenlang mit meinen Gedanken im Garten auf und ab. Dazwischen kommen Tage mit Wachdienst, Requirierungen; letzthin hatte ich Straßenbau zu beaufsichtigen usf. Aber viel Dienst ist nicht. Ich fühl mich jetzt wieder so kräftig wie früher, nur darf ich kein Bier trinken und muß überhaupt vorsichtig mit Essen und Trinken sein. Mein Darm (oder ist es der Magen, ich weiß es nicht) ist merkwürdig empfindlich geworden; aber ich kann mich hier gut halten; ... Nimm mit diesem kleinen Allerseelengruß einen lieben Kuß von D. Frz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 112-113.
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