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[114] 16. Nov. Hagéville, 16.XI.14


Liebste, heut kam Dein Brief vom 9. Es tut mir herzlich leid, daß Ihr soviel Unruhe mit den Hunden habt; ich halte Russi wohl für ziemlich alt. Wenn Ihr die Notwendigkeit seht, seinem Leben einen kranken Alterssiechtum zu ersparen, so gebt ihm ruhig das Gnadenmittel. Ich hab auch hier Pferde, die ich liebhatte, ruhigen Herzens erschossen, wenn ich sie leiden sah. Man kann die Tiere beneiden, daß man ihrem Leben diesen Abschluß geben darf. Ich glaube, nach den Sindelsdorfer Erfahrungen, nicht, daß er noch einen Winter überleben wird. Seine Zähne und sein Magen sind schlecht. – Jetzt gibt es keine heiße Hündinnen, die Zeit ist – meines Wissens wenigstens – unbedingt zu spät. So glaube ich auch nicht, daß Welf jetzt darunter leidet. Frühjahr und Früh-Herbst sind die Zeiten. Auch merkt man es dem Hunde, an schlechten Gewohnheiten, meist an; ich merkte[114] nie etwas an Welf. Wenn Welf einmal allein ist und mit den Jahren, wird er wohl noch ein sehr guter Hund werden. Bewegung hat er wahrhaftig genug, vor allem jetzt im Herbst und Winter, wo er im ganzen Garten laufen kann. So lang Russi lebt, würde ich Welf nicht zum Spazierengehen mitnehmen. Die Eifersucht und Wut wird nur noch größer, und auch Welf wird eher, wenn er dann einmal daheimgelassen wird, erst recht närrisch. Eher gebe ich Euch den Rat, Russi Bauers in Pflege zu geben, damit die Rauferei einmal ein Ende hat. Ihr könnt ihn dann bei Bauers, oder wo Ihr ihn sonst habt, zum Spazierengehen abholen. Dann ist wenigstens Ruhe im Hause und Garten, und Welf, den wir brauchen, wird nicht ganz närrisch und verdorben, wie ich es etwas fürchte; ich kenne ja die Geschichte zur Genüge und wie machtlos man ist. Welf wird ganz anders sein und sich ziehen lassen, wenn er allein ist. Wenn man mit ihm zuweilen spielen darf, hat er genügend Bewegung ... Wie ich lebe? Die Kolonne hat 3 ›Züge‹ à 3 Wagen. Ich bin als Unt. Off. dem 3. Zugführer (Sergeant) zugeteilt, ohne besondere Funktion, da ich Meldereiter der Kolonne bin. Ich wohne mit ihm, einem sehr netten Menschen, Stadtgärtner Stephan, (der uns bestimmt nach dem Kriege besuchen will und Dir Rat in Gartenangelegenheiten geben wird) und noch 2 anderen Gefreiten in einem Zimmer. Ich allein hab ein anständiges Bett, die 3 anderen schlafen auf einem Heulager, das wir in's Zimmer eingebaut haben. Früh zwischen 5 und 6 stehe ich mit Stephan auf, das Kaminfeuer wird angezündet und Kaffee gebraut. Dann sitzen wir meist 1–2 Stunden pfeifenrauchend am Kamin, Stunden, die ich sehr gern habe. Natürlich trifft ab und zu Dienst, sodaß man gleich früh anspannen und wegreiten muß. Wenn's hell wird, gehe ich vis-à-vis in's Quartier zum Wachtmeister, wo ich eine, den hiesigen Umständen nach nicht einmal so schlechte Waschgelegenheit habe. Seife langt noch für lange, ich hab auch von Koehler bekommen. Soweit ich nicht abkommandiert werde, kann ich meinen Aufenthalt am Tage zwischen unserm Zimmer und dem Kanzleizimmer teilen, je nachdem hier oder dort mehr Ruhe ist. Abends wird zuweilen tarockt. Für meine Sachen hab ich einen ziemlich großen Wandschrank. – Heute erhielt ich einliegenden Brief von Kandinsky, gestern ein Schokoladepaket von Münter ... Mit dem Leutnant bin ich jetzt wenig zusammen, da er ständig mit den Offizieren der Abteilung ißt. Ich bin im Grunde sehr froh darüber, da ich mehr allein bin und für mich arbeiten kann. Ich sehne mich noch nicht nach Verkleinerung der Zeit, der Höhepunkt ist noch nicht da; nur jetzt nichts Halbes. Wir müssen die Härten der Zeit tapfer ertragen, der Geist der Stunde ist es wert. Kuß Euch beiden Dein Fz.

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Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 114-115.
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