152

[126] Neujahr 1915


Prost Neujahr! Es ist ein fabelhafter schöner Tag, rührend schön, als ich im ersten Morgenlicht wieder in meine Stellung ritt. Die Berge sind alle weiß, aber herunten im Tal spüren wir immer noch keinen Winter. Wir tranken gestern so beträchtliche Mengen Punsch, daß wir ganz schwer und taumelig einschliefen. Das famose Bett und richtige Mittagessen, das ich jetzt habe, bringt mich oft ganz vom bitteren Ernst des Krieges ab; ich bin viel weniger nervös und aufgeregt und lebe jetzt mehr in Heimatgedanken, trotz der dröhnenden Kanonen. So traurig es ist, daß im Osten die Entscheidung sich so in die Länge zieht und vielleicht ganz neuer Operationen bedarf, so bleibt doch immer die eine Beruhigung: In's Land kommt der Feind nicht, weder im Osten noch im Westen. Jeder Versuch der Franzosen, im offenen Gelände vorzudringen, wird von unsrer Artillerie spielend, (oder wie der amtliche Bericht sagt: ›leicht u. unter schweren[126] Verlusten für den Feind‹) zurückgewiesen. So war es vor Verdun, in den Vogesen und hier und wohl auf der ganzen Linie und im Osten. Die 42 stehen alle an der Küste. Dort oben wird die Entscheidung fallen, – wie, kann ich mir freilich nicht vorstel len; die ganzen Operationen im Norden entziehen sich leider so ganz meiner Vorstellung. Die Äußerung von Tirpitz über den Handelskrieg mit Unterseeboten ist toll in ihrer Unverblümtheit; ich bin neugierig oder besser gierig auf das, was im Norden sich noch ereignen wird. Gottlob liegt das süße kleine Ried in einem vor dem Weltkrieg so geschützten stillen Winkel. Halte und verwalte es nur treu, bis ich einmal wieder mit dem Kochler Zügelchen da hinaus und heimkomme!. Um unsre Zukunft ist mir nicht bang. Ich finde Menschen. ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 126-127.
Lizenz:
Kategorien: