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[140] 12.IV.15


Liebste, je gründlicher und öfter ich Deine letzten Briefe lese, desto zwingender erscheint mir ihre innere künstlerische Logik. Ich streifte in den Aphorismen die Wahrheit an allen Seiten, ohne jemals das ›Eigentliche‹, Wesentliche zu sagen; sie bedeutet eine völlige Abkehr im Sinne des Gleichnisses vom reichen Jüngling; erst wenn die ganz vollzogen ist, kann man prüfen, ob die Gefühle, die überbleiben, wertvoll genug sind, um auch den anderen etwas zu bedeuten. Bei den allermeisten wird es nicht der Fall sein; ihre Bilder würden gänzlich reizlos oder besser gesagt: sie würden aufhören, welche zu malen. Die Beschaulichkeit, die reinliche Zurückhaltung, das Gewissen würde sie vom unreinen Produzieren abhalten. Nach diesem edlen Maßstab gemessen bleibt von der gesamten europäischen Kunst äußerst wenig übrigl Der entwicklungseitle Geist der modernen Jahrhunderte war der Kunst, wie wir sie träumen, allzu abhold. ›Kunst ist nur ganz selten da‹. Ich denke viel über meine eigene Kunst nach. Der Instinkt hat mich im großen und ganzen auch bisher nicht schlecht geleitet, wenn die Werke auch unrein waren; vor allem der Instinkt, der mich von dem Lebensgefühl für den Men schen zu dem Gefühl für das animalische, den ›reinen Tieren‹, wegleitete. Der unfromme Mensch, der mich umgab, (vor allem der männliche) erregte meine wahren Gefühle nicht, während das unberührte Lebensgefühl des Tieres alles Gute in mir erklingen ließ. Und vom Tier weg leitete mich ein Instinkt zum Abstrakten, das mich[140] noch mehr erregte; zum Zweiten Gesicht, das ganz indisch-unzeitlich ist und in dem das Lebensgefühl ganz rein klingt. Ich empfand schon sehr früh den Menschen als ›häßlich‹; das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel Gefühlswidriges und Häßliches, so daß meine Darstellungen instinktiv, (aus einem inneren Zwang) immer schematischer, abstrakter wurden. Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir mit jedem Jahr mehr häßliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Häßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewußtsein kam. Vielleicht hat unser europäisches Auge die Welt vergiftet und entstellt; deswegen träume ich ja von einem neuen Europa, – aber lassen wir Europa aus dem Spiele; Hauptsache ist mein Gefühl, mein Gewissen, wie Du sagst. Mein Gewissen sagt mir, daß ich vor der Natur (im weitesten Sinne) vollkommen richtig und zwingend fühle; und wenn ich nur von meinem Lebensgefühl ausgehe, sie mich nicht mehr angeht und berührt wie die Kulissen eines Theaters, mit der man eine Dichtung drapiert. Die Dichtung selbst stammt aus ganz andern Dichter- und Urgründen; und will ich sie ausdrücken, so wie ich sie fühle, darf ich nicht mit Kulissen arbeiten, sondern [muß] einen weltbildfernen reinen Ausdruck suchen. Ob es einen solchen gibt? Ob er je rein gefunden wird in der Malerei? In der Musik ist er gefunden worden, da hast Du recht; aber wie schnell ist er wieder verloren worden! ›Nichts konnten wir zwingen damit‹, – das wollte ich sagen, die relative Erfolglosigkeit jenes frühen Sieges wollte ich mit jenem Satz ausdrücken. Kandinsky ist zweifellos jenem Ziel der Wahrheit nah auf der Spur, – darum liebe ich ihn so. Du magst ganz recht haben, daß er als Mensch nicht rein und stark genug ist, sodaß seine Gefühle nicht allgemein gültig sind, sondern nur sentimentale, sinnlich nervöse, romantische Menschen angehen. Aber sein Streben ist wundervoll und voll einsamer Größe. Du mußt aus dem Vorstehenden nicht schließen, daß ich jetzt nach meinem alten Fehler wieder beständig über die mögliche, abstrakte Form nachdenke; ich suche im Gegenteil sehr gefühlsmäßig zu leben; mein äußerliches Interesse an der Welt ist sehr keusch und kühl, sehr durchschauend, sodaß das Interesse sich nicht in ihr verfängt und ich gegenwärtig eine Art negatives Leben führe, um dem reinen Gefühl Raum zum Atmen und zur künstlerischen Entfaltung zu geben. Ich vertraue viel auf meinen Instinkt, auf das triebhafte Produzieren; das kann ich erst wieder in Ried; aber dann wird es auch kommen; ich hab oft das Gefühl, daß ich irgend etwas Geheimnisvolles, Glückliches in der Tasche [habe], das ich nicht ansehen darf; ich halte die Hand drauf und befühle es zuweilen von außen. – Was Du von Kam[insky] erzählst, ist sehr hübsch. Mit tiefem Kuß Dein Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 140-141.
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