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[178] 5.XII.15


Liebste, ich lese jetzt mit wirklichem Genuß die kleinen Bücher von Bölsche über die geologische Gestaltung der Erde; ich denke da immer an unsern kleinen Spaziergang in's Tal des Leinbach und sehe dort die grotesken Gesteinsfalten. Dort gehen wir sicher einmal auf Muschelsuche, wenn die Leute einmal eingesehen haben werden, daß bei dieser ganzen Schießerei doch nichts Erhebliches und Erhebendes herauskommt. – Das Verrückteste an der ganzen blödsinnigen Westfront ist sicher St. Mihiel. Die Stadt liegt rund und knapp 11/2 Klm vom 1. französischen Schützengraben weg! Artilleriebeschießung haben wir den Franzosen untersagt, d.h. ein einziger Schuß, der in die Stadt fällt, löst sofort eine mörderische Kanonade unsrerseits auf Commercy u.a. Orte aus, daß die Franzosen es auch vorziehen, uns das Vergnügen an Mihiel mit seinem Kaffeehaus etc. zu lassen. Spaß muß sein. Die Stadt wird nur, besonders bei Nacht, zu gewissen Stunden durch Infanteriefeuer (einer sogen. Gewehrbatterie), beunruhigt, vor allem die Hauptstraße, in der das beliebte Kaffee mit Damenbedienung ist. Man muß also ein bißchen vorsichtig sein beim Nachhausegehen. So um die ganzen und halben Stun den ist so ein bissel unsicher. Ich erkundigte mich letzthin nach dem Zahnarzt und frug, ob er eigentlich ruhig arbeiten könne, ›O ja‹, hieß es, ›der wohnt ja in der rue soundso nach »hinten« naus‹. Hinten ist nämlich bei uns soviel wie Osten, und vorn ist Westen. Kubins Stadt ›Perle‹ [aus dem Roman ›Die andere Seite‹, d. Hrsg.] bleibt ja weit hinter dieser grotesken Wirklichkeit zurück; aber in St. M. ist sonst vollkommen dieselbe ein bißchen dumme, ein bißchen gefährliche, aber dafür auch gegen alles gleichgültige Stimmung wie in ›Perle‹; selbst dieses traumhafte ›nicht Fort-Können‹ für die dort in Unterkunft Befindlichen besteht wie in Kubins Buch. Wenn Du einmal Kubin sehen solltest, kannst Du es ihm schildern; er ist überlebt, d.h. das Leben ist über seine Phantasie gestiegen.

Kopfkissenbezüge kamen heute. Die halten schon eine Zeitlang. Wirklich gute Wäsche tut mir ja leid, da die Frauen hier zu schlecht waschen. Das Wasser ist trüb; dann schlagen sie die Wäsche, als müßte sie in Fetzen gehn. – Beiliegend Brief von Lasker. Sie interessiert mich nicht mehr. Vielleicht freut sie mich wieder mehr, wenn[178] ich sie sehe; meinen Brief hat sie natürlich nicht verstanden oder verstehen wollen; das tut mir um Paulchens willen leid, den ich eigentlich sehr gern habe; ich seh merkwürdig stark mich in seinem Gesicht. Ich war auch so altklug, menschenken nerhaft und ›langweilte‹ mich überall. Meine Zeichnungen waren auch unkünstlerisch, wenn sie auch steifer waren, – ich machte im Gegensatz zu P. höchstens eine kleine Zeichnung pro Monat! Aber es ist etwas in Pauls Gesicht, was mich und meine Knabenerinnerungen und Heimlichkeiten sehr berührt und das ich an ihm liebe. Ich hatte meinen Vater, und was war mir dieser merkwürdige, philosophische Mensch! Und Paul hat gar keinen Vater!! Mit Küssen Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 178-179.
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