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[179] 7. u. 8. XII 15


Liebste, ich bin neugierig, wohin es uns diesmal zum Weihnachtsfest verschlägt. Maman schreibt heute, sie hofft, daß ihr Weihnachtspaketchen diesmal ›rechtzeitig‹ ankommt. Ich glaub's kaum, nachdem wir wieder ›auf Reisen‹ gehen. Ich kann Dir gar nichts zu Weihnachten senden außer Briefgrüße und Liebessehnsucht. Wenn Du was weißt, kaufst Du Dir es schon in meinem Namen. Und ich werd auch manchen Punsch auf Dein und unser Wohl trinken. Seit Baron St[engel] wieder die Kolonne führt, bin ich sehr viel vergnügter. Wir zwei verstehen uns ganz gut; wenigstens werden wir verstehen, uns gegenseitig[179] bei Laune zu erhalten. Wenn Du je in Leseüberdruß kommst (d.h. wenn man keinen Shakespeare, Hoffmann, Dostojewsky oder Hölderlin lesen will), – so lies Fabre, Bölsche und dergleichen. Ich kann mir gar nichts Anregenderes und Befriedigenderes als Zeitvertreib und Bildung denken, als das Forschen dieser Naturwissenschaftler: Entstehung und Ahnenfolge der Pflanzen und Tierwelt, die geologischen Zeitalter (letzteres ganz besonders), Insektenleben, Sternenlehre u.s.w. Kennt eigentlich Kam[insky] viel in diesen Dingen? Mich interessieren diese Dinge jedenfalls 100 mal mehr als Nationalökonomie, moderne Erfindungen u.s.w. Ich lese diese Dinge, geologische Gesetzmäßigkeiten, mathematische Gesetze stets mit einem Begleitklang des Unterbewußtseins und Ahnungen und Folgerungen, die zwischen den Zeilen stehen; der Begriff: Naturgesetz ist bei mir längst aus dem Kurs; es gibt höchstens ›Gesetz-mäßigkeiten‹; die Periodizität alles Geschehens ist ja schon nicht mehr Gesetz, sondern Wandel, Schwingungsmaß in ungeheuren Zeiträumen. Die exakte Wissenschaft ist auch nur eine hohe, sehr scharfe europäische Denkungsart und auch nur ›Anschauung‹. Man kann sein Vorstellungsleben gar nicht weit und immens genug spannen, die Distanzen nicht weit genug nehmen, wenn man der tobsüchtigen ichsüchtigen Enge dieses Jammerlebens entrückt sein will und teilhaben will am – Reich Gottes, am heiligen Geist. Der Niederschlag dieser Stimmung wird sich natürlich immer wieder im Leben zeigen, muß es ja. – ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 179-180.
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