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[184] 10.I 16.


Liebste, gestern nacht war zum ersten und erstaunten Male wieder ein reiner Sternenhimmel; er war so lieblich wie im Frühling; aber heut morgen war das gleiche öde graue Schmutzwetter wie immer. Ohne Gummimantel kann man gar nicht existieren. Deine lieben Briefe vom 7. und 8. Jan. sowie das Gundolfheft kamen heute. Mich freut die Lektüre auch sehr; Wenn ich ihn ganz und sorgfältig gelesen habe, schreibe ich Dir ausführlich darüber. Es deckt sich ja vieles, was er sagt, fast wörtlich mit meinen Aussagen, die ich schon früher August gegenüber gemacht habe: daß die technischen Errungenschaften (wie z.B. Fliegen, Maschinen, Telefon etc.) die Menschen geistig und wesentlich um keinen Zoll weiterbringen, sondern im Gegenteil stets auf Kosten einer intuitiven primären Fähigkeit sich entwickeln. Früher fühlte man, wie es einem Freund geht, – heut telefoniert man ihn an; früher konnte man seine Dichterwerke auswendig, – heute stehen sie gedruckt und billig in jedem Bücherschrank. Die Erinnerungskräfte nehmen mit jedem Reproduktionswerk an Intensität ab. Und gar die Maschinen, die dem Menschen die Arbeit ›abnehmen‹ sollen!! Das alles ist ja einwandfrei klar. Ebenso das Resultat dieses Krieges: Fluch und Strafe, daß wir die Wissenschaften um ihrer praktischen Nutzbarkeit und Anwendung willen betreiben! Wir schalten die natürlich und gleichzeitig geheimnisvoll wirkende Natur aus, machen uns zu ihrem Herrn, durchrasen Raum und Zeit, äffen ihre chemischen Vorgänge nach, – aber alle unsre Erfindungen wenden sich wie böse Geister gegen uns selbst, – wir fallen von unsern eigenen Waffen, wie ein böses Geschlecht, das sich selbst zerfleischt, weil es in seinem Hochmut und ekelhaften Eindrängen in eine verbotene Geisterwelt, (die es gleich praktisch ausnutzen zu können meinte), seinen inneren Halt verlor. Das alles ist sehr klar, auch Gundolfs Grundgedanke, daß unser Kulturleben nicht mehr leibliche Funktion ist, sondern willkürliches Spiel mit organischen Kräften, die man in ihrem Wesen nicht versteht, sondern nur experimentell benutzt. Insofern wollte ich auch nie den Leib und das organische Leben verleugnen; meine Sehnsucht zum Abstrakten, zur reinen Linie ist etwas ganz anderes. Ich will erst Gundolf gründlich lesen, um zu sehen, was er und wie er alles meint, – dann schreib ich Dir mehr. – Die chinesischen Märchen sind noch[184] immer nicht da, – sie kommen schon noch; ich freu mich sehr auf dies Büchlein, – Dank voraus, Liebe; ich hatte gar nicht mehr dran gedacht, daß ich sie mir eigentlich gewünscht hatte; ich vergesse so was ja immer wieder; aber jetzt freu ich mich sehr darauf. Dank für die Blümchen, – jetzt schon Leberblümchen!! Ich glaube doch, daß Hannis Geschwulst mit Wiederkäuen zusammenhängt, – ich bin mir fast sicher, in tiefer Liebe Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 184-185.
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