248 [205] Postkarte an Wassily Kandinsky

16.11.1914


Lieber Kandinsky, heute folgte dem Schokoladenpaketchen von Frau Münter Ihr lieber Brief vom 8. XI. Die Post funktioniert ganz glänzend. Ich antworte gleich mit dieser Karte, um den Empfang des Briefes zu bestätigen. In den ersten sehr schlimmen Wochen in den Vogesenkämpfen konnte ich auch oft Traum und Tat nicht trennen. Wenn ich zu Pferd saß und meine tagelangen Ritte machte, vor allem bei Nacht, wußte ich immer nicht: ist nun Ried mein Traum oder dieses endlose Reiten durch die Nacht. Und oft dachte ich an Ihre Bilder, die mich wie die Formeln eines solchen Zustandes begleiteten. Jetzt habe ich dieses gespenstige Leben überwunden und bin in die größte Lebhaftigkeit geraten. Ich kann immerwährend an meinen Gedanken bleiben und Masche für Masche knüpfen. Ich hüte ängstlich diese innere Ruhe, die mir oft wie ein Wunder scheint und jedenfalls wie ein Geschenk; und ich hab ja hier keinen Kameraden, dem ich es zurufen kann, wenn der böse Krieg mich holt! Er soll mich aber nicht holen! Leider ist mein Körper nicht so widerstandsfähig, als ich im Anfang gedacht, und muß doch durchhalten; mein Herz ist dem Krieg nicht böse, sondern aus tiefem Herzen dankbar, es gab keinen anderen Durchgang zur Zeit des Geistes, der Stall des Augias, das alte Europa konnte nur so gereinigt werden, oder gibt es einen einzigen Menschen, der diesen Krieg ungeschehen wünscht? Schreiben Sie mir doch zuweilen, ich will es auch tun. Herzlich 1 × 2 Ihr F. Marc.

Hören Sie etwas von Schönberg? Es würde mich interessieren, in welcher Stimmung er lebt.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 205-206.
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