Rückkehr nach Deutschland

[376] Am 20. März 1799 reiste ich mit Heigelin und den beiden Hackerts von Neapel nach Livorno. Als ich meine homerischen Kupferplatten und die Platten zum etrurischen Vasenwerke an Bord des Schiffes bringen ließ, glaubten die Träger, es sei Geld in den Kisten, weil sie so schwer waren. Die Kiste, worin ich ein Originalbild von Raffael gepackt hatte, war mit einem doppelten Boden versehen, damit jeder Beschädigung möglichst vorgebeugt würde. Andere Bilder, so auch zwei von Guido Reni, hatte ich zu den Kupfertafeln gelegt.

Das so glänzende Neapel erschien mir jetzt schwarz und traurig wie ein Grab. Sonst waren die Klöster auf den Bergen umher an den heiligen Festen mit tausend Lichtern erleuchtet, es würden Kanonen und Feuerwerke abgebrannt: Nun war alles dunkel und öde; die hohen Paläste standen finster und schweigend, kaum hier und dort blinkte ein einsames Licht. Mein Blut war in Gärung, meine Nerven waren in Erschütterung, und mein Herz war in Wehmut! Diese Stadt, wo ich so viel genoß, so viele Freude, so viele Freundschaft, so viele Ehre! – Die Anker wurden gelichtet, die Segel aufgezogen und vom Winde gespannt. Das Schiff fing an zu gehen! Da kamen wir nun vorbei an dem Hause, in welchem ich so manches Jahr gewohnt hatte!

Bei unserer Abfahrt ereignete sich noch ein sonderbarer Vorfall. Es war verraten, daß ein Silberarbeiter, der sich an Bord befand, zweitausend Scudi bei sich habe; dies war[377] der Erwerb seines Fleißes, und er dachte sich damit in Florenz einzurichten. Der Polizeibeamte befahl, daß alle Koffer aufgeschlossen werden sollten. Wir alle waren nicht wenig in Angst, daß man bei dieser Gelegenheit auch zum unsrigen Lust bekommen möchte; aber es wurde nichts genommen als jene Summe, welche die junge, schöne Frau des armen Silberarbeiters unter ihrem Kleide verborgen hatte.

Vorzüglich betrübte es mich, als ich an dem Felsen vorbeifuhr, auf welchem Hamilton ein kleines Lustgärtchen hatte. Man konnte unter dem Felsen durchgehen. Mir fielen alle die frohen Stunden ein, welche ich hier verlebt hatte. Solange der Sommer dauerte, holte er mich jeden Mittag um zwei Uhr in Begleitung der Lady ab, und dann aß ich bei ihm. Seines angenehmen Erzählungstalentes habe ich schon erwähnt. Bei jenem Felsen kam mir eine seiner launigen Geschichten ins Gedächtnis, welche er mit ganz vorzüglicher Lebhaftigkeit und Anmut vortrug. In seiner Nachbarschaft unter einem anderen Felsen wohnte ein Ehepaar in einer kleinen Hütte. Nun geschieht es oft, daß bei anhaltend starkem Regen sich Stücke, die sehr überhangen, von den Felsen losreißen. So hatte einst die Hütte der beiden Eheleute das Schicksal, daß sie von Felsenstücken bedeckt und den Bewohnern der Ausgang versperrt wurde. Sie glaubten, daß ein Erdbeben sei und sie dabei unter die Erde versenkt worden wären, und bereiteten sich auf ihr nahes Ende vor. Nach katholischem Glauben aber kann keiner selig werden, der nicht einen Beichtvater oder, in Ermangelung dessen, sonst jemandem seine Sünden gebeichtet hat. Die beiden Eheleute beichteten also gegenseitig. Was sie einander vertrauten, läßt sich nicht gut schreiben, aber wohl erraten.

Weiter fuhren wir am Posilippo vorbei, und als wir an die Stelle kamen, welche man die Schule Virgils nennt, erinnerte ich mich daran, daß ich oft des Sonntags bei großer[378] Hitze mit allen meinen Schülern hierhergegangen war. Man findet hier immer Seegras, das von den Wellen angetrieben wird. Davon nahm ich und legte mich darauf in eine Felsenspalte, wo immer ein Durchzug vom Winde war. In der Nähe ist eine Grotte, in der es spukt. Die Türken legten sich einmal mit ihren Schiffen hinein, um Neapel zu überfallen. Jetzt halten sich, so glaubt man, Zwergmännchen darin auf, die sich dem Vorübergehenden auf die Schultern setzen und ihn unausgesetzt ohrfeigen. Dann besuchte ich auch wohl einen Ort, ringsum mit einer einsamen Felsenbucht. Die Felsen stehen geradeauf gegen den Himmel. Hier haust die einsame Amsel. Wie lebhaft empfand ich hier jedesmal den wunderbaren Kontrast dieser wie aus der Welt verlorenen, in sich zurückgezogenen Stille mit dem rauschenden Gewühle der großen, prächtigen, bevölkerten Stadt – und diese Kontraste so nahe beieinander!

Das alles lag nun hinter mir, und die wehmütige Erinnerung an so manche heitere Stunden der Vergangenheit ließ mich die Pein der Gegenwart um so schmerzlicher empfinden. Dazu wurde ich seekrank, so daß alle an meinem Aufkommen zweifelten. Nur mit Mühe konnte ich eine halbe Tasse Tee genießen, indem ich sie hinunternippte.

Auf der Höhe von Monte Christo, einer kleinen Insel zwischen Italien und Korsika, kam ein kleines, bewaffnetes Fahrzeug auf uns zu und befahl uns, beizulegen. Es war ein Kaper, und als wir die Turbans und türkischen Gewänder seiner Equipage erkannten, sank uns allen der Mut, und wir sahen uns schon als Galeerensklaven nach Algier oder Konstantinopel gebracht. Besonders mein Freund Heigelin war sehr bange. Der einzige von unserer Gesellschaft, welcher bei diesem Übergange mehr Freude als Traurigkeit zeigte, war ein Dattelhändler aus Tunis. Wie der seine vermeintlichen Landsleute sah, geriet er ganz außer sich und tanzte auf dem Verdeck herum. Als aber die Franzosen[379] ihre Verkleidung ablegten und zeigten, wer sie waren, da wurde unser Türke in eben dem Maße schwermütig, wie er vorhin froh gewesen war. Wir sollten nach Korsika, Bonapartes Vaterland, gebracht werden, wo man uns in ein Gefängnis geworfen, uns vielleicht verhungern lassen, ganz gewiß aber unserer Sachen beraubt hätte. Zum Glück waren unsere Reisegefährten, Heigelin und der Bankier Schwarz aus der Schweiz, reich genug, um die Korsaren mit Geld zu befriedigen und uns aus ihren Händen zu retten.

Ich lag sehr krank darnieder. Das Steuerruder, welches sich an den Kielbalken scheuerte, brachte Töne hervor, die dem Angstrufe eines Sterbenden glichen, eine angenehme Musik für mich, der ich dem Tode sehr nahe zu sein glaubte! Dazu stieg am Horizonte ein schwarzes Gewitter auf, und die Nacht wurde stockfinster. Der Blitz schlug nach der Küche in einen eisernen Gropen, zum Glück aber zündete er nicht. Der Kapitän stand am Ruder, und der Steuermann war im Vorderteile des Schiffes. Plötzlich rief der Kapitän: »Haltet Wasser! Ich höre die Wellen an die Felsen schlagen!« Es war eine schreckliche Nacht! Der Wind blies mit solcher Gewalt, daß wir jeden Augenblick den Untergang fürchteten. Man glaubte gegen Sardinien hingetrieben zu sein. Bei Tagesanbruch aber entdeckten wir die Insel Elba und die Felsen von Piombino, welche nur sehr wenig aus dem Wasser herausstehen. Später wurden wir auch die Insel Gorgona gewahr; wir kamen ihr so nahe, daß wir sie mit bloßen Augen sehen konnten. Bei dem gewaltigen Sturme hatten wir gewiß hundert Meilen gemacht, und als es Tag wurde, sahen wir uns doch auf derselben Stelle, wo wir den Abend vorher gewesen waren. Unser Kapitän verstand wenig von seinem Fache und der Lotse noch weniger. Auch sahen wir die Formiculi, eine Menge kleiner Felsen. Michelangelo verlor hier alle Zeichnungen, die er nach Dantes Hölle gemacht hatte. Ich flehte[380] Gott an, daß er mir nur meine homerischen Kupfertafeln nicht möge untergehen und mich glücklich nach Göttingen möge gelangen lassen, damit der Heyne den Text dazu schreiben könnte!

Endlich lavierten wir in den Hafen von Livorno hinein, nachdem wir zwölf Tage unterwegs gewesen waren. Hier lag eine dänische Fregatte, welche ebenfalls wie unser Schiff vom Blitz getroffen war, der nicht gezündet, sondern rund um das Schiff alle Kanonen berührt hatte. Die Sanitätsbeamten kamen uns entgegen und taten viele Fragen an uns, was mich sehr langweilte. Dann wurden wir alle, um Quarantäne zu halten, nach dem von der Familie Medici erbauten Lazarett gebracht. Hier sah ich auch die zwei großen, länglichen Granitbecken, welche sonst auf der Villa Medici in Rom standen. Heigelin war dänischer Konsul und erhielt daher oft Besuche von Dänen, welche sich hier in Livorno befanden. In dem sogenannten Lazarett belustigte uns unser Türke mit allerlei Kunststücken und Späßen. Er legte z.B. auf einen umgestülpten Topf ein kleines Stück Geld, welches der haben sollte, der es bei verbundenen Augen mit dem Munde aufheben könnte; nun schob er aber eine brennende Kohle unter und so fort. Im Lazarett mußte ich mich an den Unterfeldscherer halten, der mich in Neapel gekannt hatte. Der Oberregimentsfeldscherer befahl nämlich, der einen Reihe, in welcher ich lag, die Beine bis an die Gelenke abzusägen und die ganze Reihe zu begraben, der anderen Reihe, welche an der Ruhr litt und in welcher mein Freund lag, trocken Brot zu geben. Bei diesem Manne ging es ins Große, und mit einem Blick von Übersicht blieb er an der Tür stehen und kommandierte: »Reihe vor Reihe!«

Hier in Livorno sah ich auch in einer Trödelbude ein lebensgroßes Bild in Ölfarbe, das nach der Marmorstatue des stehenden Christus mit dem Kreuze gemacht war. Diese Statue, deren Fuß schon abgeküßt und mit einem vergoldeten[381] Bronzeschuh überzogen war, befand sich in der Kirche alla Pace. Die Figur des Bildes war in der nämlichen Größe wie die Statue selbst. Die Kontur war mit der größten Richtigkeit gezeichnet und verriet, unter der Aufsicht des Michelangelo gemacht zu sein. Es war mehr Zeichnung als Gemälde, denn aller Fleiß war auf die Linie verwandt, welche den Körper umschreibt und die einzelnen Muskeln. Die Behandlung hatte viel Ähnliches mit der des Sebastiano del Piombo. Es wäre für eine Akademie ein nützliches Vorbild für die studierende Jugend gewesen, um danach zu zeichnen.


In Frankfurt logierten wir bei meinem jüngsten Bruder Jakob. Der war gut Freund mit einem Doktor namens Herrmann aus Straßburg, welcher uns bei den Gebrüdern Bethmann einführte. Hier wurde man fürstlich bewirtet. Vor dem Hause stand das Monument, welches der Landgraf Wilhelm den gefallenen hessischen Offizieren hatte setzen lassen. Hier lernte ich auch den Herrn Sömmering kennen, der eine wunderschöne Frau hatte, die aber leider früh starb.

Die Stadt Frankfurt hat drei gefühlvolle Menschen hervorgebracht, deren Gemüt sehr empfänglich für das einfache Ergötzliche der Natur war: den Goethe, den Elsheimer und Heinrich Roos. Hätten wir auch nichts von Adam Elsheimer als seine stillen wolkenlosen Morgen und seine klaren Nächte mit einem Feuer, um welches Hirten sitzen, die ihr Vieh in der Nähe weiden, so würde schon dies allein sein Andenken ewig erhalten. Jeder Mensch von Gefühl, der diese Bilder sieht, wird sich der Empfindungen erinnern, die er beim Anschauen eines schönen Morgens und einer klaren Nacht genoß. Heinrich Roos hat Hirtenszenen gemalt, die so einfach und zart sind, daß sie den besten Idyllendichtungen zur Seite gesetzt werden können. Sie sind so kindlich, daß man an der Wiege mit ihrer Erzählung[382] ein Kind in sanften Schlaf bringen könnte. Ich denke mir den Heinrich Roos, der zu seinen Beobachtungen und Beschäftigungen die genügsamen, geduldigen Schafe nahm, als einen sehr glücklichen Menschen, wenn ich mir als Gegensatz einen anderen vorstelle, der zeitlebens an der Geschichte eines Cato von Utica schreibt. Mein Onkel in Hamburg sagte oft, wenn er kein Maler wäre, so möchte er Schäfer sein; er ginge alsdann mit friedsamen Geschöpfen um, suchte die schönsten Stellen der Landschaft aus und freute sich über die wechselnden Tageszeiten, sähe die Sonne kommen und untergehen, stände ruhig am Hügel, auf seinen Stab gelehnt, und sähe die Schatten der Wolken über die Felder und Wälder hinfliegen.

Lavater pflegte zu sagen, er lerne einen Menschen besser kennen, wenn er auch ein Porträt von ihm sähe. Die Kopie lehre im Original Sachen entdecken, welche er vorher nicht gekannt habe. So verdanke auch ich den natürlich gezeichneten Schafen des Heinrich Roos, daß ich die schuldlosen, friedsamen Schafe besser kennenlernte. Im Hause meiner Schwester Pforr fand ich viele Handzeichnungen von Roos, auf denen Schafe in allen möglichen Stellungen vorkamen.

Dann fuhren wir nach Hanau zu meinem Onkel Wilhelm, der mich einst über die Taufe hielt. Er war der einzige meiner Onkel, den ich noch am Leben fand, die anderen waren schon längst im Grabe. Bei ihm sah es gar nicht aus wie bei einem Maler. Jeden Abend ließ er Bild und Staffelei aus der Tür setzen. Er hatte ein Blumenbrett vor dem Fenster, unter welchem die Schwalben ihr Nest bauten. Wenn die Schwalben im Herbst nach wärmeren Ländern zogen, legte er einen Deckel über das Nest. Im Frühjahr kamen sie dann wieder und brüteten ihre Eier aus. Oft ging er hin, nahm den Deckel ab und betrachtete sie. Sie blieben ruhig sitzen, und er freute sich über das schöne Auge, womit sie ihn ansahen.[383]

In Gießen besuchte ich meine jüngste Schwester, die den geschickten Pferdemaler Pforr geheiratet hatte. Die Frankfurter schätzen den Pforr so sehr, daß sie für seine Witwe zusammenschossen und seine beiden Söhne studieren ließen. Diese hatten viel Talent. Ich blieb einige Tage in Gießen. Dann wurde ich von drei Damen aus Frankfurt abgeholt, und wir fuhren nach Marburg, wo uns Herr von Wildungen besuchte, der den bekannten Jagdkalender geschrieben hat. Er speiste bei uns, und wir brachten einen vergnügten Abend mit ihm zu. Von Marburg aus hätte ich gern meinen Geburtsort Haina besucht, der nur einige Stunden davon entfernt liegt, aber unser Weg führte uns nicht dahin.

Am 20. Juli 1799 kam ich bei meinem Bruder und meiner Schwester in Kassel an. Ich hätte sie kaum wiedererkannt, so sehr hatten sie sich verändert. Verändert fand ich alles. Mein Onkel war gestorben und auch viele meiner Freunde, bei denen ich viel Liebes erhalten hatte, lagen in den Gräbern, über welchen schon seit Jahren Moos gewachsen war. Das konnte wohl nicht anders sein, da ich an zwanzig Jahre in Italien zugebracht hatte.

Es machte mir viel Vergnügen, nachdem ich das schöne Land selbst verlassen hatte, hier in Bildern das wiederzufinden, wodurch ich auf meiner ersten Reise nach Italien so sehr ergötzt wurde, und was mir in Rom und die ganze Zeit nachher immer im Sinne lag. So hing das Grottengebirge bei Aquapendente von Both in meiner Stube. Wenn die Morgensonne auf das Bild fiel, sah ich die Felsen in demselben Lichte, in welchem ich sie in der Morgenstunde erblickte, als ich vor ihnen vorbeifuhr. Auch von Pieter de Laar, Berghem, Dujardin u.a. hatte ich hier manches. Das erhielt mich in der Gegenwart und in derselben Empfindung, die ich hatte, ehe ich und als ich nach Italien kam und fand, daß vor zweihundert Jahren andere es ebenso gesehen hatten wie ich.[384]

Quelle:
Tischbein, Heinrich Wilhelm: Aus meinem Leben. Berlin 1956, S. 376-385.
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