An meinen Lieblingsbaum

[109] Die Träume, die in stillen Feierstunden,

Die dunkler Schatten mir so oft verlieh,

Die süsse Ruh, die ich bei Dir gefunden,

Mein Lieblingsbaum, o die vergess' ich nie!


Oft sah ich neben Dir die Sonne untergehen,

Entzückt von ihres Anblicks Majestät.

Oft hat des Herbstes lindes, kühles Wehen

Mit Deinem bunten Laub mich übersäet.


Vor meinen Blicken schwebten holde Bilder,

Im lichten Glanz der Jugendfantasie,

Da träumt ich mir des Schicksals Härte milder,

Und jeder Misston wurde Harmonie.
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Und liebend grub ich einst in Deine Rinde

Den Nahmenszug, der in mir brannte, ein,

Auch darum wirst Du mir, Du stille Linde,

Vor allen Bäumen ewig theuer seyn.


Wenn sich in Deinen blüthenvollen Zweigen

Des Westes leiser Odem kaum bewegt,

Fühlt mein Gemüth sich durch das tiefe Schweigen

Der heiligen Natur so ernst erregt.


Dann denk' ich all' der Wünsche, die vergebens

In meine Seele kamen, und entflohn,

Und seufze: wär' der kurze Traum des Lebens

Vorüber, wie so manche Hoffnung schon.


Und wäre einst nach meiner Tage Mühen,

O Baum, den stets mein Herz mit Liebe nennt,

Ein stilles Grab mir unter Dir verliehen,

Du wärest dann mein liebstes Monument.
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Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Gedichte von Natalie. Berlin 1808, S. 109-111.
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