II

[191] Mit einem ganz eigenen Schauer von Wehmuth betrat er die Gränze seines Vaterlandes wieder. Stiller war es freilich in ihm geworden, seit er sie vor fünftehalb Jahren überschritten hatte, um das bittere Gefühl des Verschmähtseyns in weite Ferne zu tragen – heller aber nicht. In tausend schimmernden Farben ging ihm die Vergangenheit auf, und alle wie aus langem Schlummer erwachenden Erinnerungen seiner ersten, lebensfrohen Jugend mahnten ihn an den schmerzlichen Contrast zwischen einst und jetzt.

Und doch, so heiter er auch damals in der Fülle sorglosen Leichtsinns seine Tage dahin scherzte, hätt' er nicht zu ihr zurückkehren mögen, wenn es in seiner Kraft gestanden hätte, die[191] Kluft hinwegzutilgen, die zwischen damals und seiner blüthenlosen, entblätterten Gegenwart lag.

Denn in dem Schmerze abgewiesener Liebe, der, wie griechisches Feuer, unauslöschlich brennt, war ihm erst des Lebens tiefe Bedeutung aufgegangen, und in der kurzen, aber reichen Zeit seines Umgangs mit Erna hatte sich ihm ein nie vorher geahneter Himmel der reinsten Seligkeit erschlossen, so daß auch noch jetzt in seiner umnachteten Seele die Vorstellung des höchsten Glücks neben der Trauer lag, es verfehlt zu haben.

Die Poststraße führte ihn über Bellevüe, wo er einst einen unvergeßlichen Wintertag an ihrer Seite verlebte. Damals starrte die Natur, in die Fesseln des Winters eingeengt, ihn frostig an; aber einen warmen, seligen Lenz trug er im Busen, von der milden Sonne der Hoffnung verklärt. Jetzt lächelte ihm alles frisch und grün im Schmuck des hohen Sommers zu – doch in ihm, wie winterlich verödet! – Er riß sich gewaltsam los von diesen herben Vergleichungen, und bemühte sich, an gleichgültige Dinge zu denken, um sein aufgewiegeltes Herz wieder zu der stumpfen Ruhe zurückzubringen, die nun einmal der wohlthätigste Gemüthszustand war, den das dürftige Geschick ihm gönnte. Denn ihm mangelte Neigung und Entschluß, um mit Bestimmtheit[192] Pläne für seine Zukunft zu entwerfen, da dem Menschen, der nicht zurück blicken mag oder darf, leicht auch die Lust fehlt, seine Kräfte vorwärts zu richten, und er in ein müdes sich Gehenlassen, statt des Handelns, verfällt.

Da scheuchte ihn plötzlich ein Zufall aus dieser hinbrütenden Halbbewußtlosigkeit auf.

Ein Rad seines Wagens nämlich lief ab, und der im vollen Trab fahrende Postillon vermochte die Pferde erst anzuhalten, als der Wagen bereits umgefallen und zerbrochen war, und Alexander mehrere schmerzhafte, wenn gleich nicht gefährliche Verletzungen am Kopfe erhalten hatte.

Sie waren gerade am Ende jenes Tannenwaldes, dessen unverwelkliches, mit Schnee vermischtes Grün ihn damals, als er Erna im Schlitten fuhr, symbolisch in seinem Innern zum Hoffen ermuntert hatte.

Er beschloß, während Benedikt mit dem Postillon sich bemühte, den Wagen wieder aufzuhelfen und in einigermaßen fahrbaren Stand zu bringen, zu Fuß nach dem nah gelegenen Sorgenfrei zu gehen, um die Theilnahme seines Jugendfreundes, der es bewohnte, anzusprechen, und durch einen Verband mit Essig oder Wein das Schwellen der erhaltenen Quetschungen zu vermindern.

Als er das heitere, wohlgebaute Haus auf[193] seiner sanften Anhöhe erblickte, glühten eben die Fenster so feurig vom abendlichen Sonnenstrahl beglänzt, als wollten innere Flammen hervorlodern. Sanfte Lüfte säuselten in den blühenden Linden, die es wie ein dunkler Kranz umgaben, und trugen den lieblichen Duft, der ihm wie ein Gruß des Willkommens entgegen wehte, weit umher. Als er näher kam, bemerkte er allenthalben eine sorgsamere Cultur als vormals. Das ist der eigenthümliche Segen der Häuslichkeit, dachte er bei sich selbst. Der Mensch ist nicht geboren, um unstät und flüchtig durch die Welt zu pilgern. Hat er sich erst ein Asyl gegründet, das ihn schützt vor den Stürmen des Lebens, so gewinnt er es bald lieb, und schmückt es, wie das Kind seine Puppe. Er nimmt dann die engen Schranken, die ihn umbauen, unter der freundlichen Hülle nicht wahr, mit der sein Fleiß sie umgiebt, und dankbar – dankbarer als die Menschen – ist der Boden, den man mit Sorgfalt pflegt. –

Unter hohen Blumenstauden, die sich von dem frischen, kurz gehaltenen Rasen eines freien Platzes erhoben, saß ein herrlicher Knabe und spielte. Eine Glorie von blonden Locken umwallte sein liebliches Gesicht, und mit großen braunen, sonnenklaren Augen schaute er ihm voll herzgewinnendem Vertrauens entgegen.[194]

Alexander konnte kein nur einigermaßen liebenswürdiges Kind sehen, ohne sich innig zu ihm hingezogen zu fühlen. Er beugte sich herab zu dem Kleinen, der etwas über drei Jahre alt schien, und küßte ihn auf die freie, offene Stirn, ihn fragend, ob sein Vater zu Hause sei?

Vater nicht, antwortete der Knabe, aber Mutter. Willst du hin? Ich will dich zu ihr bringen. –

Die gepflückten Blumen in seinem aufgeschürzten Gewand bergend, raffte er sich auf, ihm ohne Schüchternheit die kleine Hand bietend, um ihn nach dem Hause zu führen, dessen Flügelthüren offen standen.

Außer der veränderten inneren Einrichtung, fiel ihm ein höherer Grad von Ordnung, als er je in diesem Hause wahrgenommen, beim Eintritt auf, und eine gewisse einfache, aber dem Auge wohlthuende Eleganz sprach ihn auf eine höchst angenehme Weise an, und verbürgte den richtigen Sinn seiner Bewohner für alles Edle und Schöne der äußeren Form.

Der Kleine stieß eine nur angelehnte Thür auf, und Alexander trat in ein Zimmer, wo eine schlanke, jugendliche weibliche Gestalt neben einer grün umhangenen Wiege saß, einen Säugling auf dem Schoos haltend, der in süßer Behaglichkeit[195] lächelnd und lallend mit ihren braunen Locken spielte.

Sie hatte ihr Haupt tief herab über das Kind gebeugt, daher konnte Alexander nicht sogleich ihre Züge erkennen; aber das schöne Haar, und die über allen Ausdruck zierlichen Füßchen, welche in ihrer vermeinten unbeobachteten Einsamkeit etwas vorgestreckt auf einem Schemel ruhten, wirbelten im plötzlich erwachten Sturm einer unbändigen Leidenschaft die wunderbarsten Reminiscenzen aus seiner tiefsten Seele herauf.

In diesem Augenblick rief der Knabe: Mutter, da ist ein fremder Mann! Sie wandte das Gesicht zu ihm hin, und vom Blitz der schrecklichsten Gewisheit getroffen, blieb Alexander wie gelähmt vor ihr stehen, denn – heiliger Gott! – es war Erna.

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 191-196.
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