Gmunden

[83] Wann ich sterbe, ist mir im Gegensatz zu den meisten Menschen, die wirklich gar nicht wissen, wozu sie leben, ganz gleichgültig. Denn einmal, irgend einmal muß es ja doch sein, nicht?! Nimm an, daß dieses »morgen« schon heute ist. Ein Aufschub, aber kein Gewinn. Dennoch möchte ich noch einmal Gmunden im Vorfrühling erschauen und im Spätherbst, kurz, bevor die Menschen kommen, die nichts erschauen! Die, die immer da sind, also die Einheimischen, besitzen nicht die Gnade des Schicksals, dem Schicksale zu danken, daß sie immer da sind. Sie halten es für selbstverständlich. Die, die für Wochen kommen in Sommers vorgeschriebener Zeit, betrachten es auch fast als selbstverständlich, daß sie da sind. Ich aber betrachte es als ein »Märchen meines sonst ziemlich unmärchenhaften Lebens«, daß es mir nach 23 Sommern noch immer gegönnt ist, dieses geliebten Sees bewaldete Ufer mit meinen Augen tief freudig zu genießen! Die Bretter, die[83] Kieselsteine, wo man landet, liebe ich, und jedes Strauches unscheinbares Sein. Und die Bänke, die seit Jahren sich nicht verändert haben, und Wälder, die man sieht und rauschen hört und nie betritt. Solange ich bin und sehen und empfinden kann, habe ich die Möglichkeit, Das zu erleben! Wenn ich nicht mehr bin, so weiß ich nicht genau, ob Andere meinen allergeliebtesten See und seine lieben Ufer geradeso herrlich finden werden und geradeso Gott danken werden, daß sie ihn sehen dürfen!? Und besonders im Vorfrühling, im Spätherbst, wenn die » Gäste« sich verzogen haben. In Sommers Prächten mag er Allen gehören, er ist dazu da.

Aber vorher und nachher, da gehört er uns, uns, die wir ihn anders lieb haben wie die Anderen. Anders?! Ja, anders! Das versteht nur Der, der es versteht.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 83-84.
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