Krankheit

[182] Morgen kommt meine Schwester. Nahe Verwandte sind in ihrem eigenen Walten eingesponnen, eingekerkert. Sie betrachten alles andere, wenn[182] sie auch noch so momentanes Mitgefühl empfinden, als eine Sache, die sie eigentlich nichts angeht und von ihren wichtigen Lebensdingen ablenkt! Irgendetwas kapiert sie und der kranke Bruder lenkt sie ab von ihrem natürlichen Leben! Es ist jene organische fast mystische Konzentration auf den Kranken nicht mehr vorhanden oder allmählich verlorengegangen, die der kranke Organismus unbedingt für seine Heilung egoistisch erfordert. Besuche schwächen ihn, und Blumen zwingen ihm ein liebenswürdiges müdes Gequältes ab.

Ich will, nein, ich kann ohne meine Freundin Alma Pt. nicht existieren. Ich bin nicht in sie verliebt, ich bin nicht eifersüchtig, ich gönne sie von ganzem Herzen einem Jeden. Aber ich kann unmöglich ohne sie leben. Ich verwerfe, ich verzehre mich selbst in Lebens-Melancholismen, halte Alles für unnatürlich und lächerlich und eines vernünftigen Menschen vollkommen unwürdig. Meine Kleider und die verschiedenen zahlreichen Zustände, die zur sogenannten bürgerlichen Nettigkeit gehören, interessieren mich nicht. Mich interessiert nur sie und ihr Lebensglück. Auch eine Art von fixer Idee wahrscheinlich. Ich habe so einen leidenschaftlichen rastlosen ununterbrochenen Drang, mich ununterbrochen mit ihrem Lebensglücke zu beschäftigen, sei es, daß ich ihr besonders bequeme rehlederne Handschuhe kaufe, sei es, daß ich ihr Zimmer selbst mit Holzkohle süß heize. Ihre Dankbarkeit interessiert mich nicht. Mein Bedürfnis, für ihr Leben irgendetwas zu leisten, sei es auch nur besondere Zahnstocher oder Zündhölzer, befriedigt mich voll und ganz. Dank wäre für mich eine[183] unangenehme Banalität, die mich »degradieren« würde. Aus freier Entschließung will ich helfen, wie, wo ich es vermag.

Mein Gefühl, ihr irgendwie geholfen zu haben im schwierigen Leben, ist meine tiefste Belohnung. Alles Andere halte ich für ein lächerliches – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 182-184.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]