Stubenmädchen-Stolz

[208] Unserem reizenden bayerischen Hotel-Stubenmädchen hat ein fremder Gast heute Morgen ein offenes Kuvert mit vielen 100 Kronen-Scheinen zur Aufbewahrung übergeben. Er sagte scherzhaft: »Für Amerika langt es nicht!« Sie war ganz stolz auf dieses Vertrauen, zeigte das Geld überall herum, damit ja nur Alle sähen, wie man »ihrem Gesichte« nichts Falsches zutraue! »Haben Sie es vor dem fremden Gaste nachgezählt?!« sagte ein Hund. »Nein, weshalb?!« »Nun, da könnte er behaupten,[208] es wäre mehr darin gewesen als wirklich vorhanden war!« »So Etwas tut ein anständiger Mensch nicht!« »Nein, aber ein Unanständiger!« »Mit einem armen Hotel-Stubenmädchen?!« Aber ihr Stolz war verschwunden, getötet, begraben! Später gab ihr der fremde Gast 10 Kronen Trinkgeld für ihre Ehrlichkeit. Aber ihr süßer, edler, kindlicher Hotel-Stubenmädchen-Stolz kam nicht wieder. Es war ein gewöhnliches, wenn auch ganz anständiges Hotel-Trinkgeld für irgendeinen geleisteten Dienst!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 208-209.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]